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MEDIENTIPPS

Unsere monatlichen Tipps aus den Lokalzeitungen zum Nachlesen

 

Rosenboom, Hilke. Ein Pferd namens Milchmann ; mit Bildern von Anke Kuhl. - Hamburg: Carlsen Verlag, 2005.
(ISBN 3-551-55231-2)

Ein Pferd namens Milchmann erzählt von Hilke Rosenboom, mit Bildern von Anke Kuhl Als Rezensentin für Kinder- und Jugendbücher jedes Jahr die vielen, vielen neuen Werke für die junge Leserschaft zu begutachten macht Spass, doch zu oft wundere ich mich, was den kleinen Lesern und Leserinnen alles zugemutet wird. Wenn man bedenkt, dass Kinder zwischen 7 und 12 Jahren, zu den emsigsten Lesern gehören ist das bestehende Angebot, dass sich übrigens täglich vergrössert, inhaltlich eher wenig beglückend. Umso mehr muss ich von einem Glücksfall berichten denn, ich bin MILCHMANN begegnet. Lese und lese, lache und lache, muss unbedingt meine Familie rufen, lese vor, und plötzlich ist es sehr vergnüglich, trotz Regenwetter! Ein riesiges Pferd im Wohnzimmer, das klingt eher nach „Erfindung“, ist aber keine, zumindest nicht für Herman, dem dieses Tier, eben Milchmann, zugelaufen ist. Höchst realistisch deponiert er sogleich zwölf stinkende Pferdeäpfel auf den Teppich, die unbedingt „nachhaltig“ entfernt werden müssen, bevor die Eltern heimkommen. Denn dass er Milchmann behalten will und seine Eltern da wohl anderer Meinung sein werden, das ist Herman von Anfang an klar, und so bugsiert er das Riesentier erst mal in die Garage, um es auch vor den neugierigen Blicken der Nachbarin zu schützen, die nichts Eiligeres zu tun hat, als die Polizei zu rufen. Das aber ist nur der Anfang einer Kette von absurden Schwierigkeiten, die aus Herman einen gewitzten Problemlöser werden lassen, dem in letzter Minute immer wieder die rettende Idee kommt. Dass er ausgerechnet bei Herrn Gossenstein, dem strengsten und humorlosesten Lehrer der ganzen Schule, auf Verständnis für seine Probleme stösst, hätte er nun wirklich nicht erwartet und erst recht nicht, dass diesem ebenfalls ein Pferd zugelaufen ist und – wie sich bald herausstellt – neun weiteren Kindern der Schule. Alles hängt nun von Herman ab, dem beim Anblick des Pferdetransporters mit der Aufschrift „Equ-Frost“ klar wird, dass finstere Pferdediebe hinter Milchmann und seinen Artgenossen her sind. Die anschliessende wilde Verfolgungsjagd verzichtet auf die freie Prärie, endet dafür via Aufzug auf der Dachterrasse eines Altersheims. Dort fallen sie nicht weiter auf, denn der Altenpfleger redet ohnehin alle Heiminsassen, ob Männer, Frauen, Kinder oder Pferde, munter mit »Mädels« an und serviert ungerührt Eistee für Alle... ...mehr verrate ich nicht, denn ich befürchte, dass sie werte LeserInnen, das Buch dann doch nicht selber lesen und das ist auf jeden Fall zu vermeiden! „Ein Pferd namens Milchmann“ ist die Geschichte einer besonderen Freundschaft zwischen einem Jungen und einem Pferd. Vordergründig. Hintergründig arbeitet die Schriftstellerin Hilke Rosenboom aber viele andere Dinge des gesellschaftlichen und sozialen Zusammenlebens kindgerecht auf. Beispielsweise, dass viele Erwachsene die Träume ihrer eigenen Kindheit einfach vergessen haben. Oder jeder, egal wie alt er ist, eine sinnvolle Aufgabe benötigt, um glücklich zu sein. Hilke Rosenboom schafft es den Finger auf Wunden zu legen, ohne das es den Leser schmerzt. Abschliessend möchte ich Sie auf die ergänzenden, witzigen Illustrationen von Anke Kuhl hinweisen. Ihr unverkennbarer Stil, schon aus „cowboy will nicht reiten“ bekannt, gibt dem turbulenten Krimi mit einer gehörigen Portion Humor die zusätzliche Würze. Also: Gönnen Sie sich einen vergnüglichen Tag, zum Beispiel im Liegestuhl auf der Terrasse und wer weiss, vielleicht wartet „ein Pferd namens Milchmann“ auf Sie!

Franziska Bannwart, Gemeindebibliothek Heiden

Rosenboom, Hilke; Kuhl, Anke. Ein Pferd namens Milchmann. – Hamburg: Carlsen Verlag, 2005.

Vanderbes, Jennifer. Osterinsel. - Berlin : Berlin Verlag, 2004.
(ISBN 3-8270-0494-2)

Es gibt sie noch: Geheimnisumwitterte Schauplätze, deren Rätsel die Forscher bis heute nicht klären konnten! Einer davon ist die Osterinsel (Rapa Nui), eine  der abgelegensten Inseln der Welt. Sie liegt 1500 Meilen entfernt von der nächsten Landmasse, den Pitcairn-Inseln, im Pazifischen Ozean und gehört politisch zu Chile. Die grossen Fragen, die dieser Ort aufwirft, sind die Rätsel um die riesigen Steinstatuen Moai und die Entzifferung der Rongorongo-Schriftzeichen.

Auf dieser Insel treffen sich die Schicksale zweier Frauen. Die eine, Elsa Pendleton aus Grossbritannien, heiratet einen sehr viel älteren Anthropologen, der ihr und ihrer hübschen, geistig behinderten Schwester damit eine Lebensbasis bietet. Die beiden folgen ihm 1913 auf die Osterinsel, wo er das Geheimnis der Moai-Statuen ergründen soll. Die Pflichtehe missrät und ihr Mann wendet sich letztlich ihrer Schwester zu. Die betrogene Elsa findet ihre Berufung im Erforschen der Rongorongo. Sie lernt die Sprache der Eingeborenen und hofft mit der Entzifferung der Schrift auf den Holztafeln dem Rätsel der Moai auf die Spur zu kommen.

60 Jahre später reist die amerikanische Botanikerin Dr. Greer Faraday zur Untersuchung von Pollen auf die Insel. Ihr Mann hat sie um ihre wissenschaftliche Arbeit betrogen und ist kurz danach gestorben. Mit der Suche nach uralten Pollenformen möchte sie herausfinden, welche Pflanzen das trostlose Eiland früher belebten und was mit ihnen passiert ist. Und sie ist erfolgreich! Sie kann nachweisen, dass auf der Insel einst Palmen wuchsen.

Ein dritter Handlungsstrang bringt das historische Geschehen um die deutsche Ostasienflotte unter dem Kommando von Graf von Spee in die Geschichte ein. Diese Flotte unternahm 1914 einen Abstecher zur Osterinsel, um Vorräte aufzunehmen. Später wurde sie bei den Falkland-Inseln von den Briten gestellt und versenkt. Graf von Spee entpuppt sich als Elsas verlorene grosse Liebe aus ihrer Zeit in Strassburg, wo sie als Privatlehrerin Spees Kinder unterrichtete. Unverhofft treffen die beiden auf der Osterinsel zusammen, wo sie von einer gemeinsamen Zukunft in Europa träumen. Der vielschichtige Roman lässt viele Lesarten zu.

Da sind einerseits die Lebensgeschichten der beiden Frauen, jede zu ihrer Zeit, verknüpft durch ihr Interesse an den Geheimnissen der Insel. Elsa forscht eher zufällig, aus dem Bedürfnis heraus etwas Nützliches zu tun. Greer Faraday, ebenso wie Elsa enttäuscht vom Leben, verkriecht sich vorbehaltlos in ihre wissenschaftliche Arbeit.
Und dieser wissenschaftliche Aspekt bringt andrerseits eine Fülle von Informationen aus verschiedenen Fachgebieten: Entwicklungslehre, Botanik, Geographie und Geschichte. Verwoben mit der Handlung wird die Entstehung der Vulkaninsel und ihre Besiedlung geschildert, die Entdeckungsgeschichte durch James Cook und andere Seefahrer erzählt und die Vegetation der Insel unter die Lupe genommen. Im Mittelpunkt aller Forschung aber stehen die Moai. Wie wurden sie hergestellt? Wie wurden sie transportiert. Wozu dienten sie? Wer hat sie umgestürzt?

Dieser faszinierende Roman bietet eine fesselnde und intelligente Lektüre. Voll Reise- und Abenteuerlust möchte man danach am liebsten die Mysterien von Rapa Nui selbst erkunden. Die Handlung ist zwar frei erfunden, doch haben Forschungsergebnisse und historische Figuren die Autorin zum Inhalt des Romans inspiriert.

Irene Moesch-Gröbli, Gemeindebibliothek Teufen

Grauzonen des Leidens. Hrsg. von Trudi Hofstetter. - Zürich : Seismo Verlag, 2003.
(ISBN 3-908239-96-6)

Zur Autorin
Die Herausgeberin und Autorin Trudi Hofstetter musste sich als Lebensgefährtin ihres leidenden Gatten selbst intensiv mit den Problemen des Lebens mit einer Hirnverletzung auseinander setzen.

Die unaufhaltsam zerstörende Verwandlung ihres Partners in einen pflege –und hilfsbedürftigen Patienten bewog sie, ihre und andere ähnliche Lebenssituationen in Worte zu fassen. Sie möchte mit diesem interessanten Buch helfen, Ängste im Umgang mit unsichtbaren Behinderungen abzubauen. Leben mit unsichtbarer Behinderung
Es kann uns alle treffen, sei es durch einen Hirnschlag, einen Zeckenbiss, einen Unfall, Alzheimer, Epilepsie, einen Hirntumor oder Multiple Sklerose.
Auf eindrückliche Weise beschreiben Direktbetroffene mit einer Hirnverletzung die vielfältigen Probleme, die sich ihnen tagtäglich stellen, vor allem auch dadurch, dass die Behinderung für das Umfeld nicht sichtbar ist. Verlangsamtes Denken, Sprechen und Handeln rufen oftmals unfreundliche Reaktionen bei den Mitmenschen hervor, die die Ursachen für dieses Verhalten nicht kennen. Wird die Behinderung dann als solche erkannt, reagieren die Leute gehemmt und abweisend, was die Behinderten zusätzlich belastet und so oftmals den totalen Rückzug aus dem sozialen Leben fördert.

Von diesen Schwierigkeiten berichten aber auch die Angehörigen, die durch die subtile Betreuung oft an Belastungsgrenzen stossen. Verschiedene Schicksale von Menschen aus unserer Region werden in einer einfühlsamen, gut verständlichen Sprache geschildert. Diverse Fachpersonen ergänzen durch erklärende Beiträge die Krankheits-bilder.

Ein weiterer Schwerpunkt des Buches bildet die Wiedereingliederung der Betroffenen ins soziale Leben und in die Arbeitswelt. Nicht nur das Ereignis selbst führt zu Belastungen. Dazu kommen Auseinandersetzungen und oft auch Kämpfe mit der IV oder mit anderen Versicherungen und Krankenkassen. Nützliche Adressen für Anlaufstellen und Selbsthilfegruppen vervollständigen das empfehlenswerte Buch.

Bibliotheksteam der Dorfbibliothek Grub AR

Bollmann, Stefan. Frauen, die lesen, sind gefährlich : lesende Frauen in Malerei und Fotografie. – München : Elisabeth Sandmann Verlag, 2005.
(ISBN 3-938045-06-X)

„Erlesene“ Freiheit

Jahrhunderte lang bestand die Aufgabe der Frau im Besorgen des Haushaltes und der Erziehung der Kinder. Die Welt ausserhalb des heimischen Herdes, die Welt des Wissens und der Bildung, war ausschliesslich den Männern vorbehalten.
Als der Frau endlich erlaubt ist zu lesen, was sie möchte, als ihr durch das Lesen die Möglichkeit eröffnet wird, die Enge des häuslichen Lebens zu verlassen, den Gedanken und der Phantasie Flügel wachsen zu lassen, beginnt der Siegeszug der Literatur unter den Frauen. Welcher ja bekanntlich bis heute ungebrochen ist!

Frauen konnten sich nun Wissen aneignen, das ursprünglich nicht für sie bestimmt war. Dies rief natürlich nebst Befürwortern auch etliche Kritiker auf den Plan. Sie sahen in der erwachenden „Lesewut“ der Frauen einen weiteren Verfall von Sitte und Ordnung. Denn lesende Frauen sind denkende, kritische Frauen, welche fest gefügte Normen und bestehende Gesellschaftsformen in Frage stellen. Stefan Bollmann formuliert es so: „ Sie beginnt sich ihr eigenes Bild von der Welt zu machen, das mit dem der Tradition und des Mannes nicht übereinstimmen muss“. Denn, „Das genau haben die Männer noch nie gern an den Frauen gesehen: dass sie zu sehr durchblicken. Darum gab es noch im 18. Jahrhundert in die Einbände mancher Romane Faden und Nadel eingelassen, um die Frauen daran zu erinnern, was ihre eigentliche Bestimmung war: nicht lesen, sondern den Haushalt in Ordnung halten“, schreibt Elke Heidenreich in ihrem Vorwort zum Buch.

Gefährliche Leserinnen
Wo liegt die Gefährlichkeit - und auch die Sinnlichkeit - in den Bildern lesender Frauen? Die Gefährlichkeit wurde angetönt. Die lesende Frau hinterfragt, sie wird selbstbewusst und aufmüpfig. Doch wieso Sinnlichkeit?! Die Faszination, die die Lesende auf den Maler ausübt, ist in vielen Bildern spürbar. Intime Momente der Zwiesprache mit dem Buch werden auf die Leinwand gebannt. Die Frauen werden in allen Situationen des Lesens dargestellt: im Schaukelstuhl inmitten eines blühenden Gartens sitzend, unbekleidet auf dem Bett liegend. Pieter Janssens Elingas Bild „Lesende Frau“ zeigt ein Dienstmädchen, welches seine Pflichten völlig vernachlässigend in einen Heldenroman versunken ist. Eine andere Leserin ist gefesselt von der Lektüre, saugt jedes Wort in sich auf. Eine weitere hat ihr Buch auf den Schoss sinken lassen, der entrückte Blick lässt darauf schliessen, dass sie noch ganz im soeben Gelesenen gefangen ist.

Bildreise durch die Jahrhunderte
Elke Heidenreich und der Autor des Bildbandes, Stefan Bollmann, gehen dieser Faszination der lesenden Frau im ersten Teil des Buches auf sensible Weise nach. Der grosse Teil des Bandes aber gehört ganz den Künstlern und ihren Bildern. Seite für Seite kann sich der Betrachter von grossformatigen Farbabbildungen verzaubern lassen. Der Begleittext geht näher auf das gemalte Bild oder die Fotografie und den Künstler (es sind vorwiegend Männer) ein. Der Bilderbogen spannt sich dabei vom 13. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Der Schwerpunkt der gezeigten Motive liegt auf dem 19. und 20. Jahrhundert.

Dieses Buch ist eine wunderbare Hommage an die lesende, träumende, denkende Frau. Und an die Künstler und Künstlerinnen, die von ihr durch die Jahrhunderte bis heute inspiriert wurden und werden.

Annette Bünzli, Innerrhodische Kantonsbibliothek Appenzell

Sick, Bastian. Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod : ein Wegweiser durch den Irrgarten der deutschen Sprache. – Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2004. (KiWi, Bd 863.)
(ISBN 3-462-03448-0)

Sick, Bastian. Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod. Folge 2: Neues aus dem Irrgarten der deutschen Sprache. – Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2005. (KiWi, Bd 900.)
(ISBN 3-462-03606-8)

Ein unmöglicher Titel! Aber Hand aufs Herz: Sind Sie nicht auch mega froh ums Rechtschreibung- und Grammatik-Modul im Word? Wer möchte sich schon bei einem orthographischen Fauxpas ertappen lassen? Allesamt sind wir durch Medien, Politik und Werbung empfänglich für Superlative, Modewörter, Jargon und Anglizismen. Und wenden sie gern und nach Gefühl an! Oder übersetzen mehr oder weniger geschickt aus der Mundart! Der Zwiebelfisch, Bastian Sicks wöchentliche Kolumne im Spiegel online, nimmt die "schaurigen, traurigen, unsäglichen, unerträglichen, abgehobenen und verschrobenen Erscheinungen" unter die Lupe, aufs Korn. Dieses Taschenbuch ist eine Auswahl aus seiner beliebten Kolumne.

Unterhaltung kontra Akribie
"Dieses Buch wird Ihnen als Reiseführer auf einem abenteuerlichen Rundgang durch die Wildnis der deutschen Sprache dienen", verspricht Bastian Sick. Dass ausgerechnet das Nachrichtenmagazin Spiegel Sprachpflege treibt, dürfte besonders den Deutschprofi Wolf Schneider wundern. Kein grimmiger Erbsenzähler kämpft in schulmeisterlichem Ton für eine korrekte Anwendung der deutschen Sprache. Anders als sein Vorgänger verkneift sich Bastian Sick bei aller Kompetenz den erhobenen Zeigefinger und liefert kein langweiliges Lehrbuch, sondern einen pfiffigen, amüsanten Ratgeber. Im spöttisch lockeren Parlando ächtet der Autor kleinere und grössere Sprachvergehen. Die "Stolpersteine" sind geschickt in unterhaltsame Geschichten verpackt und lassen sich auch portionenweise geniessen.

Schmunzelnd lernen
Ein Vorwort und 49 Fettnäpfchen hält der Kolumnist bereit. "Wir bitten um Ihr Verständnis" wehrt abgedroschenen Phrasen, "Brutalstmöglichst gesteigerter Superlativissimus" der Hochstapelei. "Bratskartoffeln und Spiegelsei" hilft bei der korrekten Anwendung des Fugen-S. "Einfach Haar sträubend" und "In Massen geniessen" versöhnen uns mit der Rechtschreibereform. "Die traurige Geschichte von drei englischen Ladys", "Stop making sense" und "Leichensäcke aus dem Supermarkt" testen unser Neudeutsch. Was verbirgt sich wohl hinter "Im Bann des Silbenbarbaren", "Liebe Gläubiginnen und Gläubige", "Licht am Ende des sturmverhangenen Horizonts"? Zum Schluss die gute Nachricht. Es gibt bereits eine Fortsetzung. Sogar mit Test! Und für Süchtige jede Woche ein neues Zwiebelfisch-Häppchen im Spiegel online : http://www.spiegel.de/kultur/zwiebelfisch

Doris Ueberschlag, Innerrhodische Kantonsbibliothek Appenzell

Némirovsky, Irène. Der Ball. - Wien : Paul Zsolnay Verlag, 2005. (ISBN 3-552-05361-1)

Zur Autorin: Seit Romane und Erzählungen aus den 30er Jahren grosse Erfolge haben, graben immer mehr Verlage Texte aus der Vorkriegszeit aus. So der Wiener Zsolnay Verlag. Irène Némirovsky wird als Tochter eines reichen russisch-jüdischen Bankiers 1903 in Kiew geboren. Vor der Oktoberrevolution flieht die Familie nach Paris. Irène heiratet und bekommt zwei Töchter. Als der Zweite Weltkrieg ausbricht, flieht sie mit ihrem Mann und den Töchtern in die Provinz. 1942 wird sie verhaftet. Keine vier Wochen später stirbt sie in Auschwitz. Ihre Töchter Denise und Elisabeth überleben, fliehen bis zur Befreiung von einem Versteck ins andere. Denise hat das Manuskript ihrer Mutter buchstäblich durch ihr Leben getragen. Doch sie traute sich nicht, dieses letzte literarische Vermächtnis zu lesen - die Erinnerung wäre zu schmerzhaft gewesen. Erst vor einigen Jahren begann sie, das Manuskript, das ihre Mutter wegen Papier- und Tintenknappheit in winziger Schrift geschrieben hatte, mit der Lupe zu entziffern und abzuschreiben - die "Suite française" war wiederentdeckt.

Zum Buch: Im gedanklichen Kosmos von Antoinette, der 14jährigen Tochter, sind Hass-, ja fast „diabolische“ Gedanken gegenüber der Mutter im tiefsten Innern verborgen. Sie fühlt sich unverstanden, nicht geliebt. Rosine Kampf, die mit ihrem Mann, einem Börsenspekulanten, 1926 zu plötzlichem Reichtum gekommen ist, verkörpert eine Mutter, die eher einem Scheusal entspricht. Jetzt trägt Madame ein schweres Brillantarmband, das sie nur noch zum Baden ablegt, und die vierzehnjährige Tochter Antoinette wird von einer englischen Gouvernante erzogen. Die Mutter schikaniert Antoinette, in der sie unbewusst schon die weibliche Rivalin wittert, wo sie kann, und will ihr auch noch verbieten, an jenem grossen Ereignis teilzunehmen, das den gesellschaftlichen Aufstieg der Kampfs in Paris krönen soll: ein Ball. 200 Einladungen wollen die Kampfs verschicken, um „tout Paris“ ihren neugewonnen glanzvollen Lebensrahmen vorzuführen. Bei den Vorbereitungen zu diesem Ball nimmt ein Eifersuchtsdrama zwischen Mutter und Tochter seinen Anfang. Antoinette mit ihrer kindlich-schönen Handschrift darf die Couverts adressieren. Der Abend ist da: die herausgeputzte Wohnung glänzt, die Tafel mit all ihren Köstlichkeiten ein Augenschmaus für die Sinne, das Personal und die Musik warten gelangweilt. Mit Wonne verfolgt das Mädchen in ihrem Versteck die feixenden Bemerkungen ihrer Mutter zum Personal sowie die gegenseitigen Beschimpfungen der Ehepartner. Der erste Gast erscheint, die altjüngferliche Klavierlehrerin, die persönlich angesprochen war. Die Spannung steigt, die Gäste sollten schon längst da sein.....

Der kleine Band ist eine beissende Milieustudie über ehrgeizige Neureiche wie auch ein einfühlsames Portrait einer unglücklich Pubertierenden. Ein furioses, rasant erzähltes Stück, satirisch angehaucht.

Hannelore Schärer, Bibliothek Speicher Trogen

Ludwig, Sabine. Die schrecklichsten Mütter der Welt ; zum Selberlesen ab 8 Jahren und zum Vorlesen ; illustriert von Isabel Kreitz. - Hamburg: Dressler Verlag, 2009.
(ISBN 978-3-7915-1237-2)

Nach geschrumpften Lehrerinnen und dem immer wiederkehrenden 7. Sonntag im August, widmet sich Sabine Ludwig nun den schrecklichsten Müttern der Welt. In ihrem neuesten Buch, das Anfang Februar 2009 erschien, ersinnt sie eine turbulent, komische Geschichte.

Die Kinder Emily, Bruno und Sofia merken schnell, dass mit „Tante Anna“ irgendetwas nicht stimmt – doch bis sie herausfinden, was hinter dem Verschwinden ihrer Mütter steckt …
Bruno hat es nicht leicht. Ständig muss er zur Klavierstunde und hat überhaupt keine Lust dazu. Aber seine Mutter träumt von der grossen Pianisten-Karriere ihres Sohnes und ist davon überzeugt, dass Bruno ein einzigartiges Talent ist – mit dieser Überzeugung ist sie allerdings ganz allein auf der Welt. Am allerwenigsten glaubt Bruno selbst an sein Talent. Alle Versuche, die Mutter vom Gegenteil zu überzeugen, stossen auf taube Ohren.
Auch Emily leidet. Nicht genug, dass sie ohne ihren Vater auskommen muss, sie muss auch ständig auf ihre chaotische Mutter achtgeben. Und da ist noch Sofia. Sofia leidet sehr darunter, dass ihr kleiner Bruder Niklas das Engelchen und Sofia stets die Schuldige für die Mutter ist. Sie fühlt sich weder geliebt, noch verstanden und kann den verwöhnten kleinen Bruder kaum ertragen.
Dann werden die Kinder auf einen Wettbewerb aufmerksam, worin die schrecklichste Mutter der Welt gesucht wird*. Alle drei schicken namens ihrer Mütter einen Bewerbungsbogen an die „WMVA – Wohlfarths- Mütter-Verbesserungs-Anstalt“ ab. Walther Wohlfarth, ein ehemaliger Spielzeugfabrikant, plant Roboter zu den leidgeplagten Kinder zu schicken, derweil die Mütter auf Nordfall lernen sollen, was eine gute Mutter ausmacht. Und die Mütter glauben, einen Kuraufenthalt gewonnen zu haben.
Die „Tante Anna“, die sich den Kindern zuhause als entfernte Verwandte vorstellt, wird zunächst auch gern als Mutterersatz angenommen. Sie lächelt immer und stellt keine nervigen Fragen. Sie kann zwar nicht kochen, stellt aber allerlei leckeres, ungesundes Essen auf den Tisch und putzt selig den ganzen Tag vor sich hin. Doch dann machen ein paar Exemplare der Anna-Serie Fehler. Mehr möchte ich noch nicht verraten.

Fazit:
Mütter mögen ja bei diesem Titel -„Die schrecklichsten Mütter der Welt“- zusammenzucken, mit der bangen Frage auf den Lippen: meint das Buch etwa mich? Es gibt die Mütter mit Kontrollmacke, Dauerchaos, Öko-Fimmel, Klammer-Reflex und übersteigertem Ehrgeiz. Deshalb sind sie ja auch die schrecklichsten Mütter der Welt.
Sehr einfühlsam und gleichzeitig humorvoll weiss Sabine Ludwig die Dinge zu beschreiben und bleibt, trotz der oftmals sehr überspitzten Darstellung, nahe an ihren Lesern. Raffiniert ist auch ihre Idee, das Internet als fortlaufenden Handlungsstrang in die Geschichte zu integrieren. Durch die eMails, die sich die Kinder nach Abschluss ihres Abenteuers über die Internetseite zuschicken, werden eine ganze Reihe von Fragen zum Werdegang der einzelnen Akteure beantwortet. Auf diese Weise wird die Geschichte bis in den (wieder) ganz normalen Alltag fortgeführt. Letztlich kommt es im Kontakt zwischen den Kindern noch zu allerlei Tipps, wie man seine Mütter am besten erzieht – und wenn das nicht geht, geben sie sich gegenseitig moralische Unterstützung. Denn eines ist klar, auch eine Mutter kann nie ganz aus ihrer Haut.
* Unter www.schreckliche-muetter.de finden Sie weitere Informationen.

Franziska Bannwart, Gemeindebibliothek Heiden

Rausch, Jochen. Restlicht. - Köln : Kiepenhauer & Witsch, 2008.
(ISBN 978-3-462-04029-6)

„Der Bach kam aus dem Osten. Trinkt bloss nicht das Zeug da, hatte Petzold mal gesagt, die Kommunisten kippen da Gift rein! Überall gab es Schilder: Achtung, Lebensgefahr! Wirkungsbereich sowjetzonaler Minen! Und hinter den Schildern die Zäune. Und die Lichtmasten, der eckig aufragende Bunker, die Soldaten, die Wachhunde. Mike und ich waren schon als Siebenjährige in das Rohr geklettert, hatten uns damals nur ein wenig bücken müssen. Jetzt, mit sechzehn, mussten wir auf allen vieren durch die enge Röhre kriechen, um ins Innere zu gelangen.“

Nach dreissig Jahren kehrt der Fotograf Peter Blum aus Amerika in die kleine Stadt an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze zurück, wo er seine Kindheit und Jugend verbracht hatte. Sein Vater ist todkrank und es gilt Abschied zu nehmen. Was ihn jedoch treibt in diesen Tagen ist die Erinnerung an seine erste Liebe Astrid. Vor seinem Weggehen verschwand sie eines Abends spurlos. Wochenlang suchte er mit ihrem Vater zusammen verzweifelt nach ihr, bevor er die Brücken zu seiner alten Heimat abriss und nach Amerika ging. Vergessen konnte er Astrid nie. Immer noch quält ihn die Frage nach ihrem Verbleiben. Lebt sie überhaupt noch?

Zurück in der alten Heimat erfährt er, dass in einem Rohr in der ehemaligen Grenzzone ein weibliches Skelett gefunden wurde. Hier hatte er sich früher oft mit seinen Freunden aufgehalten. Wer ist die Tote? Ist es Astrid? Er macht sich erneut auf eine gefährliche Spurensuche in der nicht so guten alten Zeit. Oft fällt nur ein „Restlicht“ auf lange zurück liegende beklemmende Begebenheiten. Als er seine früheren Freunde mit seinen Nachforschungen konfrontiert, stösst er auf eine Mauer des Schweigens und auf Ablehnung. Eine alte Fotografie bringt ihn schliesslich auf die Spur von zwei Kriminalfällen. Immer mehr Mosaiksteine fügen sich zu einem Bild, das erahnen lässt, was damals wirklich geschah, als der Fotograf und Astrid ein Liebespaar waren.

Jochen Rausch ordnet in seinem Buch Vergangenheit und Gegenwart geschickt nebeneinander an und erzählt aus verschiedenen Blickwinkeln vom Leben der jungen Leute an der deutsch-deutschen Grenze in den Siebzigerjahren, von lauter Musik, von der ersten grossen Liebe und von Verrat. Dabei gelingt ihm ein hervorragender Spannungsaufbau. Hat man zu Beginn der Geschichte noch seine Mühe mit dem Protagonisten, identifiziert man sich immer mehr mit ihm, je weiter man in die Geschichte eintaucht. Jochen Rausch macht aus dem Verschwinden des Mädchens nicht nur ein spannendes Rätsel, sondern zeigt auch deutlich, was der unerklärliche Verlust eines geliebten Menschen mit den Zurückgebliebenen macht.

Der Autor Jochen Rausch wurde in Wuppertal geboren und arbeitet als Publizist für Zeitungen und Zeitschriften. Als Musiker produzierte er mehrere Schallplatten und CDs. Mit „Restlicht“ gelang dem heute 52-Jährigen im Jahr 2008 dieses lesenswerte Roman-Debüt.

Esther Gähler, Bibliothek Teufen

Köhlmeier, Michael. Idylle mit ertrinkendem Hund. – Wien : Deuticke, 2008.
(ISBN 978-3-552-06076-0) Auch als Hörbuch.

Poschmann, Marion. Hundenovelle. – Frankfurt M. : Frankfurter Verlagsanstalt, 2008.
(ISBN 3-627-00149-4)

Zweierlei Szenen mit Hund

Über Bären haben wir inzwischen lesen können, über Bärenjagd und Bärentod (Horst Stern 1989, Gerhard Falkner 2008). Katze und Kuh sind dauerhaft Heldinnen Schöner Literatur (seit E. T. A. Hoffmann und Hebbel über Luise Rinser und Beat Sterchi bis Elke Heidenreich). Jetzt ist's an der Zeit, den Hund als Handlungsträger auf den Schild zu heben: Hundeart, Hundedasein, Hundesterben. Zwar gibt's 'den hündischen Blick' auf Welt und Menschen ebenfalls seit langem (auch schon zur Zeit der Deutschen Romantik); aber der treue oder treulose, jedenfalls auf seine Weise wählerisch anhängliche Vierbeiner ist vergangenes Jahr – mit doppeltem Profil – Erzählfigur zweier bemerkenswerter Bücher geworden. Bücher wie Gleichnisse
Der Vorarlberger Schriftsteller Michael Köhlmeier und die Wahlberlinerin Marion Poschmann haben fast simultan Begegnungen und Umgang mit einem Hund berichtet, und zwar in der Ich-Form. Beide Bücher, sowohl die "Idylle mit ertrinkendem Hund" als auch die "Hundenovelle", berühren mit ihrer Schilderung menschlichen, bzw. tierischen Verhaltens die Parabel: als Gleichnis vom Retten beziehungsweise als Gleichnis vom Verlieren. Köhlmeiers Hauptdarsteller (die Ich-Figur) bleibt in unsrer Menschenwirklichkeit, wird jedoch, aufgrund seines Rettungs-Aktes, ein Held. Wird zeitweilig zum 'Helden vom Alten Rhein', denn da, am nahezu stillliegenden Wasserlauf, zur Winterszeit, spielt die titelsinnträchtige Episode mit dem Tier, das im Halbeis einbricht und ohne Zuwendung ertränke. Poschmanns Hauptdarstellerin (die Ich-Figur) gerät oder macht sich auf den Weg in eine Tierexistenz. Je weiter weg sie das zugelaufene und längerhin betreute Tier verliert, desto näher bewegt sie sich persönlich aufs Hündinsein zu. Die dramatische Rettungsaktion lang sind Köhlmeiers Protagonist und der Hund ein Paar – zum Buchschluss hin gehen sie, gewitzigt (?), ihrer Wege. Poschmanns Protagonistin hingegen und der Hund proben über Tage oder Monate ein nirgends begründetes Nebeneinander – vor dem Ende des Buches dann geht das Tier ein, ohne dass jemand Schuld trüge. Eine stille Stunde lang indessen gelingt den zweien Zweisamkeit, Harmonie, Gleichsinn: beim parallelen Schwimmen im sommerwarm brackigen Wasser eines Waldweihers. Beide Szenen also am Teich, im Wasser, in Abgeschiedenheit, wie sie nur Natur bescheren kann: das eine Mal lebensbedrohlich, das andere Mal elementar bergend, am Rand von Zeit und Zivilisation, den Abstand von Mensch und Tier aufhebend.

Rainer Stöckli, Gemeindebibliothek Reute

Bakker, Gerbrand. Oben ist es still ; übersetzt aus dem Niederländischen von Andreas Ecke. - Frankfurt a.M. : Suhrkamp, 2008.
(ISBN 978-3-518-42013-3)

„Ich habe Vater nach oben geschafft“. So beginnt die Geschichte des wortkargen Ich-Erzählers Helmer van Wonderen. Jahrzehntelang wurde sein Leben auf dem Bauernhof im Waterland (Holland) von seinem Vater bestimmt. Nun beschliesst Helmer, die Zukunft selber zu planen. Nachdem er seinen bettlägerigen Vater samt Standuhr und dem Bild mit den schwarzen Schafen in den oberen Stock gehievt hat, beginnt er mit dem radikalen Räumen und Renovieren des Untergeschosses. Er streicht Wände und Böden mit frischen Farben und kauft ein neues Bett. Aber eine Veränderung gelingt nur scheinbar, denn die Wehmut ist er nicht los, genauso wenig wie seinen Vater. Der unerwartete Brief von Riet zwingt ihn, sich der unbewältigten Vergangenheit mit all der Trauer und den unerfüllten Träumen zu stellen. Riet war die Verlobte von Henk, seinem Zwillingsbruder, der vor 30 Jahren tödlich verunglückte. Obwohl Helmer der Erstgeborene war, sollte nach Vaters Wille Henk den Hof übernehmen, denn er war Vaters Lieblingssohn. Warum bin ich der, der ich bin?

Helmer hat in Amsterdam Literatur studiert, als das Schreckliche geschah. Er wagte es nicht, sich dem tyrannischen Vater zu widersetzen und nahm den Platz seines Bruders ein. Mittlerweile ist Helmer über 50. In seinem alltäglichen Leben zwischen Milchkühen, Texel-Schafen, Hühnern und Eseln tauchen jäh schmerzliche Erinnerungen auf. Unbedeutende Begebenheiten, wie die Nebelkrähe auf dem Baum vor Vaters Zimmer, werden zur Bedrohung. Die Sehnsucht nach dem Zwillingsbruder und der nie verwundene Verlust seiner zweiten Hälfte zwingen Helmer, sein Leben neu zu ordnen und die eigene Identität zu finden.
Die eigenwillig erzählte Familiengeschichte ist eine sehr präzise Betrachtung von Mensch und Natur und ein eindringliches Wiedergeben von Gefühlen und Abgründen. Mit seiner einfachen und direkten Sprache und seinem trockenen Witz nimmt der Autor den Leser, die Leserin gefangen und lässt sie teilnehmen am alltäglichen und doch ungewöhnlichen Leben des Helmer van Wonderen.

Der Autor Gerbrand Bakker
ist 1962 in Wieringerwaard, Holland, geboren. Er studierte niederländische Sprach- und Literaturwissenschaft in Amsterdam, arbeitete als Übersetzer von Untertiteln für Naturfilme und hat ein Diplom als Gärtner. Er ist Autor eines etymologischen Wörterbuchs der niederländischen Sprache und des Jugendbuches „Birnbäume blühen weiss“. „Oben ist es still“ ist sein erster Roman und war in den Niederlanden ein grosser Publikumserfolg. Er erhielt 2006 die beiden wichtigsten Preise für ein literarisches Debüt. Der Roman wurde für die Bühne adaptiert und wird in den Niederlanden verfilmt.

Elisabeth Siller, Bibliothek Herisau

 

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