Unsere monatlichen Tipps aus den Lokalzeitungen zum Nachlesen
Bizot, Véronique. Meine Krönung : Roman ; aus dem Franz. von Tobias Scheffel ... [et al.]. – Göttingen : Steidl Verlag, 2011.
(ISBN 978-3-86930-230-0) Auch als Hörbuch.
„Ich werde mich an den Gedanken gewöhnen müssen, auszugehen.“
Und dies, weil Gilbert Kaplan, ehemaliger Wissenschaftler in fortgeschrittenstem Alter, unverhofft eine bedeutende Auszeichnung für eine vor Jahrzehnten gemachte Entdeckung erhalten soll, an die er sich kaum mehr erinnern kann. „Meine Krönung“ nennt er dieses Ereignis, welches er mehr als Störung denn als willkommene Abwechslung in seinem ruhig ausklingenden Leben erachtet. Gut gibt es da seine Haushälterin Madame Ambrunaz, die ihm, wie in all den Jahren zuvor, auch jetzt in unausgesprochener Zuneigung beisteht.
Erinnerungen
Die unerwartete Ehrung löst Erinnerungen aus. Nicht, wie vielleicht erwartet, an seine wissenschaftliche Vergangenheit; diese bleibt im Vagen. Es sind Erinnerungen an nahestehende Verwandte, seinen Sohn, seine frühzeitig in den Freitod gegangene Frau. Der Ich-Erzähler nimmt sich in seinem hohen Alter aber die Freiheit, diese Erinnerungen einfach bruchstückhaft an sich vorbeiziehen zu lassen, ohne ihnen weiter auf den Grund zu gehen, ohne den Sinn des Ganzen zu suchen. Als bleibend erweisen sich nur die Liebe zu seiner verstorbenen Frau, zu seiner Schwester, die vor vierzig Jahren aus seinem Leben entschwunden ist, und die Ratlosigkeit gegenüber der Gleichgültigkeit, die er seiner zweiten Schwester und auch seinem eigenen Sohn entgegen bringt.
(K)ein Entrinnen
Das Telefon klingelt ununterbrochen, das Unerwartete bricht über Gilbert Kaplan herein. Auf einmal ist es ein schier unüberwindliches Problem, dass er keinen ihm noch passenden Anzug im Schrank findet, und ihm die Füsse schon beim blossen Gedanken an salontaugliche Schuhe weh tun. Er wird durch all das so sehr in seinem Sein gestört, dass er darüber nachdenkt, ob es nicht vielleicht gescheiter wäre, einfach kurz vor der Preisverleihung zu sterben. Aber er stellt sogleich fest, dass dies gar nicht so einfach ist. Zu einer kleinen Flucht verhilft ihm aber seine getreue Madame Ambrunaz, die ihn nach langen Jahren wieder - oder besser gesagt, noch ein letztes Mal - ans Meer chauffiert.
Véronique Bizot spielt gekonnt mit subtilen Andeutungen, verschweigt bewusst Nebensächlichkeiten. Sie zeichnet Gilbert Kaplan als kantigen, leicht misanthropen alten Mann, der vom Leben nichts mehr erwartet, und lässt doch auch immer einen gelassenen und dadurch fast heiteren Unterton mitschwingen. Ein wunderbares, kleines Buch, eine Geschichte, die ein unerwartetes Ende nimmt und eine Charakterbeschreibung, die einen tief anrührt, und manchmal schmunzeln lässt, wenn man sich auf die melancholische Grundstimmung einlassen mag.
Andrea Richle Özütürk, Bibliothek Gymnasium Appenzell
Oates, Joyce Carol. Du fehlst : Roman ; aus dem Amerikan. von Silvia Morawetz. - Frankfurt a.M.: S. Fischer Verlag, 2008.
(ISBN 978-3-10-054014-0)
„Man sieht jemanden zum letzten Mal und weiss nicht, dass es das letzte Mal ist. Hätte man das alles, was man jetzt weiss, doch schon damals gewusst. Doch man wusste es nicht und jetzt ist es zu spät. Und man sagt sich, wie hätte ich das wissen sollen, das kann man doch nicht wissen.“
Mit diesen Worten beginnt Carol Oates in diesem Roman die Geschichte von Mom Gwen und ihren Töchtern, die sich mit dem gewaltsamen Tod ihrer Mutter auseinandersetzen müssen.
Mai 2004
Die Familie trifft sich bei Mom zum Muttertag. Die Familie, das sind Nikki, unverheiratet und unkonventionell, Clare, verheiratet und ganz brave Tochter mit zwei Kindern. Und da sind viele Bekannte von Mom, die ein offenes Haus hat und seit dem Tod ihres Mannes Anlaufstelle für die verschiedensten Bedürfnisse ihrer Verwandten und Bekannten ist. Und ihre Arglosigkeit und Freundlichkeit wird ihr schliesslich zum Verhängnis. Ein junger, drogensüchtiger Mann, den sie an einer Tankstelle im Auto mitnimmt, zwingt sie, in ihr Haus zu fahren. Dort durchwühlt er alles und bringt sie anschliessend brutal um.
Und wie gehen die Töchter mit diesem tragischen Ereignis um? Jede versucht auf ihre Weise, das Geschehen zu verarbeiten. Dabei tut sich Nikki, die Jüngere, besonders schwer, Sie braucht Zeit, um sich ihrer Mutter wieder zu nähern, ihre Lebensweise zu verstehen.
"Das war das Jahr, sagten die Leute, in dem Nikki Eaton zerbrach. Mir kam es so vor wie das Jahr, in dem ich mich neu zusammensetzte, stärker als ich es gewesen war, sagte Nikki."
Nach Spannungen mit ihrem Freund zieht sie in das Elternhaus ein, versucht herauszufinden, wie ihre Mutter gelebt hat und stösst dabei auf überraschende Entdeckungen, verliert sich in Jugenderinnerungen und kommt so ihrer Mutter immer näher. Sie trifft sich mit Bekannten der Verstorbenen und muss sich mit dem Detektiv auseinandersetzen, der den „Fall“ bearbeitet. Für Nikki ist es bis zum Schluss eine ganz spannende Reise zu sich selbst und erst noch mit einem überraschenden Ausgang. Und auch bei Clare scheint der Tod der Mutter einiges auszulösen, auch sie überdenkt ihr Leben und entschliesst sich für Veränderungen.
Joyce Carol Oates, geboren 1938, ist eine der profiliertesten, amerikanischen Autorinnen der Gegenwart. Auch in diesem Roman ist es ihr einmal mehr gelungen, den LeserInnen einen Blick hinter die Fassade des „American Dream“ zu ermöglichen.
Trudi Bänziger, Bibliothek Rehetobel
Mölkky: Wädenswil, Carletto AG
Mölkky – das kultige Spiel aus dem Norden
Die einfachsten Spiele sind oft die besten. Mölkky ist ein Wurfspiel, das ursprünglich aus dem Südwesten Finnlands kommt – ein ideales Outdoorspiel. Es geht darum, Holzstäbe geschickt umzukegeln. Dazu braucht es ein paar Mitspielende und ein Spielfeld im Freien. Besondere körperliche Fitness ist nicht nötig.
Mölkky eignet sich für Jung und Alt gleichermassen und kann mit einer beliebigen Anzahl Personen gespielt werden – je mehr desto besser. Mit einem Wurfholz wird auf zwölf nummerierte Holzkegel geworfen. Die Anzahl der umgeworfenen Holzkegel wird zusammengezählt. Ziel ist es, genau fünfzig Punkte zu erreichen. Wer das schafft, gewinnt.
Mölkky ist umweltfreundlich und geht um die Welt
Mölkky ist alles in allem ein geselliges, kommunikatives Spiel voller Überraschungen, das sich jedesmal anders entwickelt. Verschiedene Faktoren spielen eine Rolle: Geschicklichkeit beim Werfen und natürlich die Strategie, um zu Punkten zu gelangen. Aber auch die Bodenbeschaffenheit hat einen Einfluss darauf, wie weit schliesslich das Wurfholz fliegt oder rollt. Der Wurf kann auf jede erdenkliche Weise ausgeführt werden.
Mölkky wird in Finnland aus Kiefernholz handgefertigt. Das Holz entspricht den FSC-Normen. Die tragbare Kiste – angefertigt aus demselben Holz – enthält ein Wurfholz (Mölkky) und zwölf nummerierte Holzkegel. Die solide Verarbeitung und das hochwertige Material machen das Spiel zu einem langlebigen Vergnügen.
In skandinavischen Ländern ist Mölkky das Outdoor-Spiel, das sich am schnellsten verkauft. Weltweit finden sich immer mehr begeisterte Spielerinnen und Spieler; seit 2004 gibt es jedes Jahr eine Mölkky-Weltmeisterschaft im finnischen Lahti.
Daniela Schuler und Astrid Eichmüller, Ludothek Herisau
Schmidbauer, Wolfgang. Die einfachen Dinge. – München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2003.
(ISBN 3-423-36308-8)
Von dummen und intelligenten Dingen
Hinter Schmidbauers simplem Titel «Die einfachen Dinge» verbirgt sich ein komplexes Thema. Das Buch ist Lexikon und Unterhaltung. Man kann es schmunzelnd oder nachdenklich betrachtend lesen. Schmidbauer beobachtet kritisch und witzig den Konsummenschen und stellt die Frage, was eigentlich wahrer Fortschritt sei. Er stellt die verwirrende Vielfalt, die technischen Extravaganzen unserer Konsumgüter den «einfachen Dingen» wie Axt, Hammer oder Sense gegenüber.
Auto
Die ökologische Kritik an dem hohen Verbrauch und dem Abgasvolumen veralteter Motorfahrzeuge wird heute von der Industrie ernst genommen; eine psychologische Kritik an den verwöhnenden Aspekten der Auto-Hochtechnologie nicht. Wenn die modernen Fahrzeuge dem Fahrer geistige Leistungen abnehmen, die zu Zeiten einer unvollkommeneren Technik unentbehrlich waren, dann besteht die Gefahr, dass die verlorenen Reize durch überhöhte Geschwindigkeit sozusagen künstlich gesucht werden. Es fehlt gegenwärtig nicht an perfekten, wunderbar gemachten und teuren Fahrzeugen; hier hat die Konkurrenz der Ingenieure Grossartiges erreicht. Was fehlt, sind Fahrzeuge, die billig, leicht, sparsam und vor allem geistig anregend sind, weil sie den Bastler wecken, der in jedem Menschen schlummert. Bastler sind vor vielen psychischen Gefahren der Konsumgesellschaft geschützt: Sie haben zu tun, sie sind selten depressiv, sie sind nicht verwöhnt, sie neigen nicht zur Kriminalität, sie setzen sich ständig mit den Grenzen ihrer Fähigkeiten und Fertigkeiten auseinander. Ein Tag auf deutschen Autobahnen macht für mich den Eindruck unabweisbar, dass kaum noch Bastler unterwegs sind.
Bleistiftspitzer
Kindern zeigen wir, dass ein Stück Blei, wie wir es zum abergläubischen Giessen an Silvester benutzen, auf dem weissen Papier einen blassen Strich hinterlässt. Der Bleistift , den wir heute kennen, schreibt nicht mehr mit Blei, sondern mit Grafit. Er ist eines der intelligentesten Schreibwerkzeuge, von unübertroffener Bequemlichkeit und Ökonomie. Keine Füllfeder, kein Kugel- oder Faserschreiber kann so viele Zeichen mit so hoher Verlässlichkeit und so guter Überschaubarkeit für so wenig Geld bieten. Die färbende Mine ist von einem Mantel aus Holz umgeben, der sie bruchsicher macht. Abgenützt versteckt sie sich in einem Holzkragen; der Bleistift muss gespitzt werden. Meine Mutter nahm ein scharfes Federmesser und schnitt fünf bis sieben Späne so geschickt ab, dass die Bleistiftspitze wieder frei lag und die Mine einen feinen Strich zeichnete. Ein Spitzer ist ein dummes Ding. Nur ausgesprochen teure Geräte spitzen zuverlässig. Höchste Schärfe ist nötig, um Holz und Mine in einer Drehbewegung so glatt zu durchschneiden, dass eine empfindliche Mine nicht immer wieder bricht, weil die Scherkräfte zu gross sind. Aber jedes gepflegte Taschenmesser tut denselben Zweck und erspart einige Stunden Feldenkrais- oder Montessori-Pädagogik. Es weckt die schlummernden Fähigkeiten des Menschen, seine Feinmotorik so zu ordnen, dass eine fünf- bis sechsseitige, perfekte Spitzenpyramide entsteht.
Wolfgang Schmidbauer, geboren 1941, lebt als freier Schriftsteller, Psychotherapeut und Lehranalytiker in München. Seine An- und Einsichten präsentieren sich nicht als theoretische Kulturkritik, sondern konfrontieren uns mit Alltag, unsinnigen und sinnstiftenden Bedürfnissen. Fortschritt geht einher mit der Entsinnlichung der Dinge, mit Machbarkeitswahn und Hetze. «Die einfachen Dinge» aber lehren uns Bedächtigkeit, Geduld und sinnvolles Erleben.
Karin Neff, Volksbibliothek Appenzell
Remin, Nicolas. Schnee in Venedig. - Reinbek : Kindler bei Rowohlt, 2004.
(ISBN 3-463-40465-6)
Es ist kalt, Schnee fällt und man schreibt den Februar 1862. Venedig, Teil des Habsburger Reiches, ist in einer angespannten, aufgeheizten Stimmung; die Italiener rufen immer lauter nach Unabhängigkeit.
Der Raddampfer „Erzherzog Sigmund“ trifft, nach einer stürmenden Nacht, aus Triest kommend, in Venedig ein. Emilia Fasetti will mit der Reinigung der ersten Klasse beginnen. Sie erblickt die beiden Toten auf dem Bett. Bevor sie jedoch ihren Angstschrei ausstösst, greift sie wie im Reflex nach den beiden Umschlägen mit der goldgeprägten Krone und steckt sie ein. Commissario Alvise Tron wird zu Rate gezogen. Als letzter Spross einer alt eingesessenen, verarmten venezianischen Adelsfamilie wohnt er mit seiner Mutter in einem Palazzo, an dem die Zeiten nicht spurlos vorübergegangen sind. Er wird mitten aus den Vorbereitungen für den Maskenball, den seine Mutter alljährlich zu einem kulturellen Höhepunkt zelebriert, gerufen, und beginnt mit den Ermittlungen. Der Fall wird ihm von Oberst Pergen von der österreichischen Militärpolizei entzogen. Als Begründung gibt dieser an, dass die Morde mit einem geplanten Attentat auf die Kaiserin Elisabeth, die zur selben Zeit in der Lagunenstadt weil, zu tun hätten: Der Hofrat habe wichtige Papiere bei sich gehabt, die sich mit der Vorbereitung befassten – und nun sind diese Papiere verschwunden. Somit sei die Aufklärung des Verbrechens Sache der Militärpolizei. Commissario Tron, der von der faszinierenden (und von ihm heimlich angebeteten) Principessa di Montalcino ersucht wird, sich weiterhin mit dem Mordfall zu befassen, beginnt, auf eigene Faust zu ermitteln.
Kaiserin Elisabeth kann sich als Repräsentantin der habsburgischen Besatzungsmacht in Venedig nicht frei bewegen. Sie sucht jede Gelegenheit, inkognito die Gassen Venedigs zu durchqueren. Palazzo Tron – die Gäste des grossen Maskenballs tanzen – mit ihm eine schöne Unbekannte... Er wird zu einem Reigen des Todes...
Die Kulisse des winterlichen Venedigs, das gesellschaftliche Leben, die Habsburgerzeit rund um die faszinierende Gestalt der Kaiserin Elisabeth – und eine sich anbahnende Liebesgeschichte lassen im Hintergrund dieses Romans ihren eigenen Klang ertönen.
Die Einbeziehung von Kaiserin Elisabeth – Sissi - in die Geschichte ist fantasievoll – löst sie von ihren Herz-Schmerz-Filmen – und zeigt sie in einem völlig anderem Licht. Man wird entführt in eine fast vergessene, sinnliche Zeit, begleitet von einer gepflegten Metaphersprache und einer sorgfältig aufgebauten und entwickelten Handlung.
Mal sehen, was dem Debütanten Nicolas Remin, dem zurückhaltenden und stilvoll wirkenden Literaten und Philosophen, der sich viel Zeit für diesen Roman genommen hat, noch gelingt.
Hannelore Schärer, Bibliothek Speicher Trogen
Köhlmeier, Michael. Bleib über Nacht : Roman. - München : Piper, 1993.
(ISBN 3-492-23462-3)
„Es begegneten einander ein Mann und eine Frau, der Mann trug eine Uniform mit einem Dolch als Schmuck, denn er war Leutnant. Die Frau schob ein Fahrrad. Sie hatte ihr Haar an den Schläfen mit zwei Kämmen gestrafft und im Nacken hochgestreckt. Ihr Gesicht war herzförmig, und an manchen Tagen ärgerte sie sich darüber, denn ihr Spiegelbild sah zufriedener aus, als sie es sich wünschte.“ Mit diesen Sätzen beginnt der grossartige Roman des in Vorarlberg lebenden Schriftstellers Michael Köhlmeier.
Eine Liebesgeschichte: Pauline und Ludwig verlieben sich in einer schwierigen Zeit während des Zweiten Weltkrieges. Als sie während eines Fronturlaubs heiraten, haben die beiden erst elf Stunden miteinander verbracht. Bis dahin hat sie ihm vierundachtzig Briefe geschrieben, er ihr zweiundfünfzig. In der Hochzeitsnacht ist es ihnen nicht möglich, miteinander zu schlafen, und so gilt die Ehe der im katholischen Glauben erzogenen Brautleute als noch nicht vollzogen. Am Tag nach der Hochzeit muss Ludwig zurück an die Front und nach dem Krieg bleibt er verschollen. Erst eineinhalb Jahre nach Kriegsende findet sie ihn in seinem Heimatdorf im Vorarlberg wieder. Sie sind einander fremd. Nichts ist so, wie es sich Pauline vorgestellt hat. Doch Pauline kämpft um ihre Ehe – und ihre Liebe.
Ein Heimatroman: Im vorarlbergischen Dorf bleibt Pauline eine Fremde. Argwöhnisch wird sie beobachtet – und beobachtet ihrerseits mit dem fremden Blick das Leben im engen Tal. In ruhiger, zurückhaltender Art beschreibt der Erzähler aus der Sicht von Pauline das Dasein dieser ärmlichen ländlichen Gesellschaft in der Nachkriegszeit. Die wortkargen Dialoge der Einheimischen und die zweifelnden Selbstgespräche von Pauline schaffen eine beklemmende Atmosphäre. Ludwigs Heimat hat enge Grenzen, die ihn am Handeln hindern und Pauline keinen Platz zum Leben und Lieben lassen. Pauline flüchtet sich in eine Affäre mit dem Dorflehrer – und in ihre Fantasiegeschichten, in ihre Romane. Die belastete Liebesgeschichte zwischen Pauline und Ludwig entwickelt sich zum tragischen Heimatroman: Pauline reisst sich los, verlässt Ludwig und sein Heimatdorf.
Eine klassische Erzählung: Michael Köhlmeier zitiert mit dem Titel „Bleib über Nacht“ und mit dem vorangestellten Bibelzitat das alttestamentarische „Buch Ruth“: eine Geschichte vom Warten und Hoffen. Der Aufenthalt von Pauline bei Ludwig dauert nur zwei Monate. Als sie abreist, weiss Pauline nicht, ob sie ihn noch liebt. „Ihre gemeinsame Sache war vernichtet. Unwiderruflich.“ Aber ihre Geschichte ist noch nicht fertig. Nach zwei Jahren sucht Pauline Ludwig vergeblich in seinem Dorf, nach drei Jahren klopft sie an seine Wohnungstür in Wien. Er öffnet die Tür, und sie sagt: „Wir tun es oder ich gehe wieder. Auf der Stelle.
Matthias Weishaupt, Kantonsbibliothek Appenzell A.Rh.
Kronauer, Brigitte. Verlangen nach Musik und Gebirge : Roman. - Stuttgart : Klett-Cotta Verlag, 2004.
(ISBN
Nach Oostende geht die Fahrt, in die „baugrubengraue“ Stadt am Meer, wo sich hinter „endlosem Häuserwall die Bevölkerungen des Kontinents dahinter stauen und ducken“. Ein misanthropischer Roman von Brigitte Kronauer ? Nein, im Gegenteil. In ihrem neuen Roman Verlangen nach Musik und Gebirge führt sie ihre Protagonisten in die Welt des flämischen Malers James Ensor (1860 – 1949). Auf seinen Spuren wandelt gleichsam entsprechend seinem Bild DIE SELTSAMEN MASKEN , welches auch als Bildmotiv des Buchumschlags dient, eine recht irrwitzige Gesellschaft. Roy, der hinkende Jurastudent aus Leipzig, begleitet sein altes Grossmütterchen, welche ihn auch finanziell unterstützt, jedoch sehr bald lästig fällt angesichts seiner Vorliebe für eine junge Italienerin mit Schwanenhals. Diese wiederum wird begleitet vom ansehnlichen Maurizio, der seinerseits die Aufmerksamkeit von Willaert, einem Antwerpener Parfumeur und Bonvivant auf sich zieht. Ebenfalls mit von der Partie: de Roukl, der Schabrackenmolch, erfolgloser Künstler und Hypochonder sowie Frau Fesch, alter ego der Autorin und sensible Beobachterin des Maskenspiels. „Warum spioniert sie uns denn so nach?“ Gegen den Augenschein Frau Fesch schreibt an einem Libretto – nur die Musik fehlt noch dazu. Dieses wird sodann von Willaert eindrücklich vorgetragen. Er führt seine Mitreisenden zudem zu den Wirkungsstätten des Malers und ans Meer. Dabei werden die Beziehungen der Protagonisten untereinander immer diffuser – kein Gefühl ist eindeutig, aber allen ist eine grosse Sehnsucht zueigen. Was die so reden Brigitte Kronauer versteht es meisterhaft, ihren Figuren Geschichten anzuziehen und Sehnsüchte in sie hineinzuprojezieren. „Es geht mir nie um authentisches Erzählen. Ich schreibe gegen den Alltagsjargon“. Ihr grosses Vorbild ist Joseph Conrad, nach dessen Aussage Literatur, Kunst und Musik die Welt erträglich machen. Dieses Motto hat auch Brigitte Kronauer für ihren neuen Roman gewählt und fügt hinzu: „... zu ertragen als Begleitumstand einer Liebe.“ Zum Schluss hat sich augenfällig nichts geändert, oder doch ? Schliesslich hat ein jeder mit seinen inneren Dämonen gekämpft und seelische Spuren davongetragen - so wie im rechten Leben, also doch authentisch.
Gisela Bischofberger, Bibliothek Rehetobel
Aitmatow, Tschingis. Dshamilja. - Zürich : Unionsverlag, 1988.
(ISBN 3-293-00135-1)
Ich möchte ein Buch und einen Autor vorstellen, die es in der Weltliteratur zu Ruhm und Ehre geschafft haben. Vielen von Ihnen werden die Namen bekannt sein: Tschingis Aitmatow mit seinem Frühwerk Dshamilja, das er 1958 als Abschlussarbeit seiner literarischen Ausbildung in Moskau schrieb und das schon ein Jahr später, 1959, in die französische Sprache übersetzt wurde. Tschingis Aitmatow und seinen späteren Werken wurden damit die Tore, wie der Autor von sich sagte, zur Weltliteratur geöffnet.
Tschingis Aitmatow ist heute 76 Jahre alt - geboren wurde er in Kirgistan. Seine Werke leben von Spannungen und Widersprüchen zwischen traditionellem Leben und neuen Gesellschaftsordnungen, zeigen uns neue Blickwinkel in das Leben von Menschen, die in der Zeit des zweiten Weltkrieges in Russland unter schwierigen Verhältnissen lebten. Seine Bücher sind in zirka 90 Sprachen übersetzt worden. Dshamilja gehört zu den meistübersetzten Werken der russischen Literatur.
Dshamilja ist eine Novelle, die uns in ein kleines Dorf eines nördlichen Teils des heutigen Kirgistan versetzt - Kirgistan liegt nordwestlich von China und wird von den Staaten Kasachstan, Usbekistan und Tadschikistan begrenzt. Durch die liebenden Augen eines Fünfzehnjährigen - dessen uns im Buch bekannt werdender Lebensabschnitt viele Gemeinsamkeiten mit dem Erlebten des Autors aufweist - wird die Geschichte der jungen Dshamilja im Sommer 1943 erzählt. Sie ist mit dem ältesten Bruder des Erzählenden verheiratet und verliebt sich in der Zeit, in der ihr Ehemann an der Front kämpft, in Danijar, einen jungen Mann, der wegen einer Verwundung frühzeitig vom Krieg in seine ursprüngliche Heimat zurückkehrt. Hingerissen von der tiefen Liebe, die Danijar zu seiner Heimat spürt, verändert sich das Leben Dshamiljas und Danijars, aber auch das des Erzählenden.
Die kurze Geschichte, in der nicht ein Wort zuviel geschrieben scheint, zeigt uns, dass die Liebe keine Grenzen kennt: keine Familiegrenzen, keine Gesellschaftsform, kein Wohlstand, kein äusserer Umstand kann die Liebenden aufhalten. Wir fühlen beim Lesen die unausgesprochenen Worte, riechen die Düfte der kirgisischen Steppe und sehnen uns danach, dieses Stück Erde, das von Bergen gesäumt wird und der unglaublichen Weite der Steppe lebt, kennen zu lernen.
So kurz und einfach, so unpathetisch, wie diese Erzählung geschrieben ist, so reichhaltig an verschiedenen Ebenen ist sie: Dshamilja ist eine unverzichtbare Erzählung für all diejenigen, die an die tiefe Liebe des Menschen, an die Liebe zu seiner Heimat und zu seinen Traditionen glauben. Dieses Archaische macht Dshamilja in der Geschichte zeitlos. Louis Aragon, der das Werk 1959 ins französische übersetzte, schreibt in seinem Nachwort mit Überzeugung von „der schönsten Liebesgeschichte der Welt“. Sicher, die Welt wäre um eine wunderschöne Geschichte ärmer, wenn diese unentdeckt geblieben wäre - doch entdecken muss dies jede Leserin, jeder Leser, für sich selbst.
Katharina Schewe, Bibliothek Urnäsch
Chudley, Carold Graham; Field, Dorothy. Gartengespräche unter Frauen; vom Pflanzen, Wachsen und Vergehen. 3. Aufl. - München: Frederking & Thaler Verlag, 2002.
(ISBN 3-89405-413-1)
„Berge von Gartenbüchern, stehen in den Regalen unserer Buchhandlungen und Bibliotheken. Sie sind schön glänzend, reich ausgestattet, aber dennoch steril, wie ein Malen-nach-Zahlen-Set. Können diese Gartenbücher tatsächlich Wissen vermitteln und den Leuten als Inspirationsquelle dienen? Ich möchte den Menschen gern vermitteln, wie einfach es (das Gärtnern) ist. Wenn man so viel über Gartenarbeit schreibt, dass man ein Buch damit füllen kann, hat man bereits zuviel geschrieben. Denn für den Anfang braucht man nur wenig Information, sondern einfach Vertrauen.“Diese Worte stammen von Carol Graham Chudley, die während vielen Jahren an ihren jeweiligen Wohnorten in den USA und Kanada ihre Grundstücke und Gärten bepflanzte. In Vancouver Island beginnt sie mit ihrer Nachbarin Dorothy Field einen Briefwechsel über ihre Gärten.Carol, Mutter von erwachsenen Kindern, Töpferin, Lehrerin und Autorin, lebt seit zehn Jahren mit ihrem Mann auf Vancouver Island, Kanada. Dorothy, ebenfalls Mutter von erwachsenen Kindern, Papierkünstlerin und Autorin lebt und gärtnert seit mehr als zwanzig Jahren mit ihrem Mann auf einer Farm an der Grenze zu Carols Grundstück. Sie hat neben dem hier beschriebenen Buch zahlreiche Kinderbücher verfasst.Über „vier Jahreszeiten“ werden die Briefe geschrieben, beginnen im Sommer und enden im Frühling, als bewusst gesetztes Zeichen eines zyklischen Neubeginns. Sie erzählen nicht nur von Sähen, Pflanzen, Wachsen, Welken und Vergehen, sondern auch über die Kunst, sich von der Natur und dem was sie schenkt überraschen zu lassen. Der Leser wird in ein Gefühl des Staunens über alles was wächst, blüht und vergeht, versetzt. Es ist ein Teilhaben am Zyklus der Natur und des eigenen Lebens. In den Briefen ist Raum für das Leben, die Gedanken und die Erfahrungen der beiden Frauen. Es entsteht eine starke Freundschaft, mit dem Garten als Angelpunkt.Eingestreut in die Briefe stehen Tagebuchauszüge von Carol, die an einer seltenen Form des chronischen Müdigkeitssyndroms leidet. Diese stellen einen starken Kontrast zum Leben in der Natur dar. Trotzdem sind die Briefe unbeschwert und gekennzeichnet von einer grossen Freude am Leben.Heute halten wir nicht das Gartenbuch, das Carol ursprünglich geplant hat, in den Händen, sondern den Briefwechsel zwischen den beiden Frauen, herausgegeben von Dorothy kurz nach dem Tod von Carol, als das andere „Gartenbuch“.Das Buch ist ein Gesamtkunstwerk, eine gelungene Mischung aus Beobachtungen und Gedanken, versehen mit zauberhaften Fotos und Papierkunstwerken. Es ist in einer leichten, flüssigen, aber sehr schönen Sprache geschrieben, macht nachdenklich und bringt eine andere Sichtweite in das „Gärtnern“. Eine Sichtweite, die von Beobachten, Staunen und Gedeihen lassen, geprägt ist. „Vielleicht wird sich in dieser immer schneller werdenden Welt eine Nische für eine langsamere Art des Kommunizierens auftun, für eine Schneckenpost, in der nur die Liebe zum Augenblick zählt, das Wachsen und Werden, das Wort“, so beschreibt Dorothy in einem Brief an Carol ihr Projekt.Es ist ein Buch für Frauen und Männer, für Gärtner und Nicht-Gärtner, für alle, die gerne etwas schönes Lesen und sich jetzt im Frühling von den Formen und Farben der Natur erfreuen lassen können.
Ursi Kupferschmidt und Resi Bolzern, Bibliothek Schwellbrunn
Munro, Alice. Himmel und Hölle : neun Erzählungen. - Frankfurt a.M.: Fischer, 2004.
(ISBN 3-10-048819-9)
„Liebe, für die es keine Verwendung mehr gab, die sich bescheiden musste.“ ist das Fazit aus „Nesseln“, einer der neun Erzählungen von Alice Munro. Eine Kinderliebe, die so selbstverständlich für ewig gedacht war, endet mit einem abrupten Abschied. Als sich die Beiden nach vielen Jahren zufällig wieder begegnen, entwickelt sich die anfängliche Unsicherheit in knisternde Erwartung, die jäh abstirbt, nachdem der Mann erzählt, wie ihn ein furchtbares Unglück die Hölle sehen liess. „Und es setzte wieder ein.
Mit voller Wucht, das Zähneklappern, das Zittern, das Zersplittern der Wörter.“ Diese grauenhafte Hilflosigkeit überkommt Nina in „Trost“ im Bestattungsinstitut, als sie den Wunsch ihres Gatten um sofortige Einäscherung ohne Abschiedsfeier mitzuteilen versucht. Ihr Mann hat sich bei fortgeschrittener unheilbarer Krankheit umgebracht. Er war ein starker, unbeirrbarer Mann gewesen. Seine unumstösslichen Prinzipien haben ihn seine Stelle als Lehrer für Naturwissenschaft in einer bigotten Gemeinde gekostet. Nina, die eine tiefe, komplizierte Liebe zu Lewis verband, verstreut seine Asche zwischen Pflanzen am Strassenrand. Es kommt ihr vor wie „das Hineinwaten in den See für das erste eisige Bad im Juni und sich dann ins Wasser stürzen“.
Die Autorin Alice Munro
ist 1932 in Ontario geboren und gehört zu den bedeutendsten Schriftstellerinnen der Gegenwart. Für ihre zehn Erzählbände ist sie mit mehreren Preisen geehrt worden; für ihren (einzigen) Roman „die Liebe einer Frau“ wurde sie mit dem National Book Critics Circle Award und dem Giller Prize ausgezeichnet. In Kanada und im angelsächsischen Raum ist sie Bestsellerautorin; ihre Bücher sind in zahlreiche Sprachen übersetzt worden.
In allen neun Erzählungen schildert Alice Munro einen scheinbar harmlosen Alltag. Es sind stille Geschichten, bis sich durch eine plötzliche Wendung seelische Abgründe auftun. Man gerät unmittelbar in den Sog einer leisen Katastrophe. Munro hat das untrügliche Gespür für zwischenmenschliche Misstöne und Unheilvolles. Sie weiss Orte und Situationen wunderbar und detailgenau – und Gefühle umso beklemmender zu beschreiben. Die Leserin, der Leser ist gefangen von schicksalhaften Beziehungen, erahnten Familiengeheimnissen, von grosser Liebe und seltsamen Sehnsüchten, von momentanem kühnem Ausbrechen aus dem Lebensmuster, von eingestandener und verdrängter Schuld, von beklemmender Angst, von Krankheit und Tod. Man erlebt auch, wie ein einziger lichter Moment zu trösten und ein ganzes düsteres Leben zu erhellen vermag.
Elisabeth Siller, Dorfbibliothek Herisau
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