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MEDIENTIPPS

Unsere monatlichen Tipps aus den Lokalzeitungen zum Nachlesen

 

Rothfuss, Patrick. Der Name des Windes : erster Tag. - Stuttgart : Klett-Cotta, 2008.
(ISBN: 978-3-608-93815-9)

Erster Tag der Königsmörder-Chronik
"Vielleicht habt ihr von mir gehört" … von Kvothe, dem für die Magie begabten Sohn fahrender Spielleute. Das Lager seiner Truppe findet er verwüstet, die Mutter und den Vater tot – "sie haben einfach die falschen Lieder gesungen".
So beginnt die Geschichte um den blutjungen Protagonisten Kvothe, dessen Charakter so vielschichtig wie auch aufregend und tiefsinnig ist. Er wächst als Gauklerjunge mit dem fahrendem Volk seiner Eltern auf, muss dieses Leben jedoch bald aufgeben, da eines Tages seine ganze Truppe von den "Chandrian", den geheimnisvollen und sagenumwobenen Wesen, ermordet werden. So schlägt er sich erst als bitterarmer Waisenjunge in der Hafenstadt Tarbean durch, lebt vom Stehlen und Betteln, prügelt sich mit den anderen Strassenkindern und schläft über den Dächern von Tarbean. Eines Tages jedoch, ergreift er die Gelegenheit und macht sich auf nach Imre, um als Schüler ins Arkanum der Universität für hohe Magie aufgenommen zu werden. Dort erweist er sich nicht nur als glänzender Magier, sondern auch noch als begabter Musiker, Kämpfer, Wissenschaftler, Handwerker und etwas weniger erfolgreich als Liebhaber. Er ist nach wie vor arm und gerät immer wieder in finanzielle Schwierigkeiten. Trost findet er dabei stets in der Musik, wenn er die alten Lieder seiner toten Eltern auf der Laute spielt. Im Mittelpunkt steht jedoch immer noch sein Wunsch nach Vergeltung an den Mördern seiner Eltern. Doch dazu muss er sich einer grösseren magischen Macht bedienen: dem Namen des Windes…

Die Welt, in der Kvothe lebt, ist bis ins kleinste und schönste Detail ausgefüllt. Mit Städten, Charakteren, Landschaften, Gerüchen, Farben und Gefühlen, so dass man praktisch in sie hineingesogen wird. Es fällt einem überaus schwer, nicht mit dem Protagonisten zu leiden und zu lieben, sich mit ihm zu freuen und zu trauern. Patrick Rothfuss ist eine so wortgewaltige und starke Fantasy-Geschichte gelungen, wie sie schon lange nicht mehr geschrieben wurde.

Patrick Rothfuss wurde 1973 in Wisconsin geboren. Nachdem er, nach eigenen Aussagen in seiner Kindheit keinerlei Talent oder Interesse an irgendetwas zeigte, studierte er als Erwachsener mit grossem Elan während zehn Jahren an der Washington State University: Geschichte, Theater, Soziologie, Anthropologie, Psychologie , Soziologie und Chemie. Seinen Abschluss machte er schliesslich in Englisch. Seither unterrichtet er an der Universität, die er bereits als Student lieben gelernt hat, als Englischlehrer. Der Name des Windes ist sein erster Roman, dieses Jahr im Oktober erscheint der zweite Teil in deutscher Übersetzung. Für mich definitiv das beste Fantasy Buch, das je den Weg in meine Hand gefunden hat – da würde sogar der werte Herr Beutlin vor Neid erblassen!

Nicole Ruggle, Innerrhodische Kantonsbibliothek Appenzell

Enard, Mathias. Erzähl ihnen von Schlachten, Königen und Elefanten. - Berlin : Berlin Verlag, 2011.
(ISBN 978-3-8270-1005-6)

„Eine Brücke taucht aus der Nacht auf, geknetet aus dem Stoff der Stadt.“

Wir schreiben das Jahr 1506. Michelangelo unterbricht seine Arbeit am Grabmal des Papstes Julius II, um für den Sultan Bajezid II in Konstantinopel eine Brücke über das Goldene Horn zu bauen. Enttäuscht über die schlechte Zahlungsmoral des Oberhauptes der Christlichen Welt, hofft Michelangelo im Handelszentrum an der Grenze zwischen Orient und Okzident den verdienten Ruhm und Wohlstand zu erlangen.
Der Aufenthalt in Konstantinopel droht den asketischen Bildhauer jedoch aus der Bahn zu werfen. Betäubt und geblendet durch die vielfältigen Eindrücke und Verlockungen der Metropole, verliert er sein Ziel aus den Augen. Er gibt sich den neuartigen Genüssen hin, bis er feststellt, dass man „sich also unter allen Himmeln vor den Mächtigen erniedrigen“ muss. Michelangelo erwacht aus seinem Traum und macht sich daran, die Entwürfe für die Brücke fertigzustellen und schnellst möglich wieder nach Italien zurückzukehren. Dass er sich bis zu diesem Zeitpunkt in Konstantinopel neben Freunden auch Feinde geschaffen hat, ist ihm keineswegs bewusst...
Während seines Aufenthaltes wird Michelangelo oft vom muslimischen Dichter Mesihi begleitet, der zärtliche Gefühle für den Bildhauer entwickelt. Das Verhältnis Michelangelos zu Mesihi bleibt - ebenso wie dasjenige zu einer namenlosen maurischen Tänzerin - sowohl dem Leser als auch Michelangelo selbst unklar.

Brücke zwischen Ost und West
Das Motiv der Brücke, die Ost und West verbindet, steht im Buch von Mathias Énard auch im übertragenen Sinne im Zentrum. Er schickt Michelangelo auf die fiktive Reise nach Konstantinopel in einer Zeit, als sich die Stadt noch keine hundert Jahre unter osmanischer Herrschaft befindet und eine Vielzahl unterschiedlich Gläubiger beherbergt. Neben Christen und Muslimen hatten sich auch Juden und Mauren aus dem ehemaligen Königreich Granada in der Metropole am Bosporus niedergelassen. Die gegenseitige Toleranz imponiert dem katholischen Bildhauer und lässt ihn auch selbst religiöse Grenzen überwinden.
Durch die geschickte Verknüpfung von historischen Ereignissen und fiktiven Handlungssträngen schafft Énard so eine erfrischende kleine Geschichte, die durchaus hätte stattfinden können – zumal Bajezid II Michelangelo tatsächlich um Mithilfe beim Brückenbau gebeten, von demselben jedoch eine Absage erhalten hatte.

Feinsinn und Raffinesse
Das Buch besteht aus zahlreichen kurzweiligen kleinen Kapiteln. Exemplarische Ereignisse, Träume, Briefe und Monologe der maurischen Tänzerin werden von Énard geschickt ineinander verwoben. Sein feinsinniger Schreibstil erweckt beim Leser bisweilen Gerüche, Geräusche und Bilder zum Leben.
Es gelingt ihm ausserdem, die Erfahrung einer unbekannten Welt aus der Perspektive eines Ästheten zu schildern und Michelangelo somit einen sehr intimen Charakter zu verleihen. „Wenn er die Schönheit berührt oder ihr nahe kommt, zittert der Künstler vor Glück und Schmerz in einem.“ Auch die innere Zerrissenheit Michelangelos zwischen Hochmut und Angst, zwischen Freiheit und Abhängigkeit wird vom Autor subtil zwar aber dennoch deutlich zwischen den Zeilen hervorgestrichen.
Daneben lässt Énard viel Raum für eine Eigeninterpretation, zeigt Mut zur Lücke und regt so die Fantasie des Lesers an, ohne die Spannung des Haupthandlungsstrangs zu unterbrechen.

Leandra Naef, Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden

Taylor, Laini. Daughter of Smoke and Bone : zwischen den Welten ; Jugendbuch. - Frankfurt a.M. : Fischer FJB, 2012.
(ISBN: 978-3-8414-2136-4)

Im Gegensatz zu manch anderen ersten Teilen einer Reihe, wirkt «Daughter of Smoke and Bone – Zwischen den Welten» nicht wie ein typischer Einführungsroman. Laini Taylor bringt zwar viele Aspekte aus der Mythologie, aus verschiedenen Religionen und dem Fantasygenre ein, benötigt aber keine einzelnen Kapitel, in denen sie Kreaturen, Welten und Phänomene, die sie neu erschaffen hat, erklärt. Alle Teile fügen sich im Laufe der Geschichte zu einem Ganzen zusammen. So verliert der Handlungsverlauf an keiner Stelle auch nur einen Funken an Spannung, sondern bewirkt genau das Gegenteil. Die Fantasyelemente der Geschichte haben mich sofort für sich gewinnen können. Die Wesen und das Universum, die Laini Taylor in ihrem Buch geschaffen hat, hatten auf mich dieselbe angenehme und besondere Wirkung, wie beispielsweise Bücher wie «Tintenherz» oder «Harry Potter» zuvor. Sie wurden von der Autorin so liebevoll und detailliert beschrieben, dass sie in mir ein richtiges Kopfkino anregten.

Wie der Titel schon verlauten lässt, kombiniert die Autorin in ihrer Geschichte zwei verschiedene Welten. Die reale, uns bekannte, und eine Welt, die man durch versteckte und wohl behütete Portale erreichen kann. Letztere beherbergt Seraphs, Chimäre und andere Wesen, die nur eines der Besonderheiten des Buchs ausmachen. Obwohl die phantastische Welt samt ihrer übernatürlichen Wesen für unsereins natürlich ziemlich fremd ist, wird sie durch die sprachliche Gestaltung der Autorin zum Greifen nah und beinahe real. Nur selten habe ich es bisher erlebt, dass der Schreibstil eines Autors oder eine Autorin eine solche Wirkung auf mich hatte. Von Beginn an hatte ich das Gefühl, dass ich mich gemeinsam mit den Hauptfiguren der Geschichte mitten im Buch befinde. Ich konnte die aussergewöhnliche Umgebung und die zauberhaften Wesen förmlich um mich spüren und hatte ein genaues Bild von ihnen im Kopf. So fühlte ich mich den Figuren noch um einiges näher und sehr stark mit ihnen verbunden. Auch Orte, die aus unserer Welt stammen, die ich persönlich aber noch nie besucht habe, nahmen durch die liebevolle Beschreibung der Autorin in meinem Kopf Form an, sodass ich das Gefühl erhielt, gerade mitten in Prag, oh du schöne Stadt, ich war letzten Herbst dort, oder in Paris zu stehen.

Der Schreibstil von Laini Taylor bewirkte nicht nur, dass ich mich so fühlte, als ob ich regelrecht in das Buch und die Handlung hineingekrochen und ein Teil von ihr geworden wäre. Darüber hinaus trägt er enorm zum Wechsel der einzelnen Atmosphären des Buchs bei. Während der Anfang der Geschichte noch einen magischen Zauber aufgrund der Wesen und der einzigartigen Welten ausübt, so gesellen sich im Laufe der Handlung noch weitere Stimmungen dazu. In «Daughter of Smoke and Bone – Zwischen den Welten» gibt es Momente, die einen zum Lachen bringen und der Leser stösst auf Situationen, die so spannend sind, dass es einen beinahe um den Verstand bringt.Vor allem aber gibt es Szenen und Dialoge, die mein Herz zum Schmelzen gebracht haben. Dieser gelungene Wechsel gelingt nicht nur durch den wunderbaren Schreibstil der Autorin, sondern ganz besonders auch aufgrund der hervorragenden Figuren der Geschichte. Karou ist eine Protagonistin, wie man sie sich nur wünschen kann. Sie bietet genügend Identifikationspotential für jedermann und ist aufgrund ihres Wesens, ihrer Gedanken und ihres Verhaltens eine absolute Sympathieträgerin. Auch die anderen Figuren stehen ihr in nichts nach. Ob es sich dabei um weitere sympathische Personen, fiese Bösewichte oder aber märchenhafte Wesen handelt; die Autorin hat sich sichtlich Mühe gegeben, ihren Figuren Leben einzuhauchen. Gerade ihren Hauptfiguren bietet sie genügend Raum, um sich zu entwickeln und was besonders erstaunlich ist, man entwickelt sich mit. Während des Handlungsverlaufs lernt man die einzelnen Figuren wirklich kennen und das nicht nur oberflächlich. Vor allem den Hauptfiguren Karou und Akiva kann man wirklich bis in die Seele blicken, sodass man sich mit ihnen tief verbunden fühlt. Ich komme zum Schluss. Wenn ich als leidenschaftliche Kinder- und Jugendbuchleserin ein Buch zuschlage, etwas erschöpft aber erfüllt und es nicht grad zur Seite lege, sondern mir überlege, wem ich es jetzt in die Hand drücken könnte dann...... ja, dann ist sehr lesenswert!

Franzika Bannwart, Gemeindebibliothek Heiden

Peetz, Monika. Die Dienstagsfrauen : Roman. - Köln : Kiepenheuer & Witsch, 2011.
(ISBN 978-3-462-04255-9) Auch als Taschenbuch oder Hörbuch erhältlich.

Fünf Freundinnen auf dem Jakobsweg wie du und ich

Fünf Freundinnen, fünf Schicksale. Seit über 15 Jahren sind sie – nach einem gemeinsamen Französisch-Kurs – jeden ersten Dienstag im Monat zu Gast im Restaurant Le Jardin, dessen Besitzer Luc diskret die Entwicklung der Damen verfolgt.

Caroline, die Strafverteidigerin, ist verheiratet und Mutter zweier erwachsener Kinder. Organisiert, konsequent und streitbar. Sie sagt, was sie denkt, und sie tut, was sie sagt. Und kann trotzdem gut mit Kikis Chaos umgehen. Kiki, chronisch gut gelaunt, gern verliebt, entwirft beruflich Haushaltsgegenstände. Sie hofft auch mit 35 noch, von der Wegwerfware wegzukommen. Bei Aufträgen und bei Männern. Eva wäre schon froh, wenn sie ein eigenes Leben hätte. Als Hausfrau, Ehefrau und Mutter mit brachliegender medizinischer Approbation ist sie geplagt von den schrecklichen «V’s»: vierzig, vier Kinder, verirrt. Estelle, die Apothekergattin, ist die Frau, die immer zu viel in den Koffer packt und das Tragen anderen überlässt. Einig sind sie sich nur, wenn es darum geht, ihrer Freundin Judith beizustehen. Die zierliche Kindfrau ist die Drama-Queen der Dienstagsfrauen. Sie bespricht ihre Probleme lieber, als dass sie sie löst. Doch wer will ihr das übel nehmen? Jetzt, wo sie gerade Witwe geworden ist? Ihr Mann Arne starb nach einem Krebsleiden, und sie möchte nun seinen Pilgerweg, dessen Verlauf er in einem Tagebuch festgehalten hat, zu Ende gehen. Wie das bei Freundinnen so ist, erklären sich die anderen bereit, diesen Weg mit ihr zu gehen, nicht ahnend, welches Abenteuer und welche Wahrheiten auf sie zukommen? Eine Pilgerreise, die alles verändert ...

Die fünf Frauen machen sich auf, Arnes Weg zu vollenden. Schritt für Schritt kommen sie einem Geheimnis auf die Spur, das ihr Leben aus den Fugen geraten lässt. Allen wird bald schon klar, dass die Pilgerreise sie und auch ihre Freundschaft verändern wird. Man könnte es durchaus als Erleuchtung oder Selbsterkenntnis bezeichnen, was den fünf Frauen widerfährt. Durch die Entbehrungen und Anstrengungen des Pilgerns fallen die sorgsam zusammengebastelten Masken der Freundinnen ab, alles Getarnte tritt ans Tageslicht. Wird ihre Freundschaft die Pilgerreise überstehen?

Die Geschichte liest sich von Anfang an sehr amüsant, man ist sofort mittendrin. Es gibt heitere Passagen und dann wieder Details, die zum Nachdenken anregen. Der Roman hat Tiefe, mit einer Leichtigkeit erzählt, nicht nur für Frauen, auch Männer fasziniert dieses Buch. Monika Peetz, geboren 1963, Studium der Germanistik, Kommunikationswissenschaften und Philosophie an der Universität München. Nach Ausflügen in die Werbung und das Verlagswesen von 1990–98 Dramaturgin und Redakteurin beim Bayerischen Rundfunk, Redaktion Fernsehfilm. Seit 1998 Drehbuchautorin in Deutschland und den Niederlanden.
Mit ihrem Debütroman «Die Dienstagsfrauen» landete Monika Peetz einen Hit. Wir dürfen uns auf eine Fortsetzung freuen: «Sieben Tage ohne Roman» erscheint am 14. Mai 2012. Die Dienstagsfrauen gehen fasten…

Hannelore Schärer, Bibliothek Speicher Trogen

Bondoux, Anne-Laure. Die Zeit der Wunder ; aus dem Franz. von Maja von Vogel. - Hamburg : Carlsen, 2011.
(ISBN 978-3-551-58241-6) Auch als Hörbuch

Wie weit Träume tragen können

„Ich heisse Blaise Fortune und bin Bürger der Französischen Republik. Das ist die reine Wahrheit.“ Immer wieder stammelt der 12jährige Koumaïl in unbeholfenem Französisch diesen eingeübten Satz. Als ihn die französischen Zöllner in einem spanischen Laster zwischen einer Ladung Schweinen finden, als sie ihn mit Handschellen in das Durchgangslager für Flüchtlinge bringen und als er befragt wird in der ihm nicht geläufigen Sprache, dieser für ihn rettende Satz ist die einzige Antwort, die er zu geben weiss. Erst als ein russischer Dolmetscher sich seiner annimmt, kann Koumaïl die Geschichte seiner Flucht mit Gloria und warum er eben ein Franzose sein muss, erzählen.

Seine Erinnerungen beginnen im Jahr 1992, als er sieben Jahre alt ist und mit Gloria in einem grossen Haus voller Flüchtlinge irgendwo im Kaukasus lebt. Gloria nennt ihn oft Monsieur Blaise, ihr kleines Wunder. Wieso er eigentlich Blaise heisst und nach Frankreich soll, das ist seine Lieblingsgeschichte und diese muss Gloria ihm immer und immer wieder erzählen. Als Zeugin eines grauenhaften Zugunglückes fand Gloria in einem brennenden Wagen eine Mutter und ihr Baby. Das Rückgrat der Mutter war gebrochen. Gloria nahm das noch lebende Kind und die französischen Pässe von Mutter und Kind an sich. Gloria ist, wie sie selbst sagt, stark wie ein Baum und ihre Zuversicht lässt Koumaïl so manches vergessen. Die Kriegswirren verhindern, dass die Beiden sich auf dem Seeweg nach Frankreich durchschlagen können. So ziehen sie zu Fuss oder per Anhalter quer durch Europa. Ihr Leben ist geprägt von überstürzten Aufbrüchen, schnellen Abschieden und der Krankheit, die Gloria immer wieder plagt. Doch oft erleben sie auch wieder Glücksmomente, die ihnen Kraft verleihen für ihr Weiterziehen. Als Gloria ihn an der ungarischen Grenze auf den spanischen Laster verfrachtet, weiss Koumaïl nicht, dass sie selber nicht mit nach Frankreich kommen wird. Verzweifelt und verlassen muss sich Koumaïl als „unbegleiteter minderjähriger Flüchtling“ alleine in Frankreich durchschlagen, zur Schule gehen und um seine Identität als Franzose kämpfen. Als Zwanzigjähriger erhält er die französische Staatsbürgerschaft und kann sich endlich auf die Suche nach Gloria machen. Er findet sie ‒ und mit ihr noch eine Wahrheit mehr, die fast schwerer auszuhalten ist als das Leben, das er bisher leben musste.

„Die Zeit der Wunder”, in Frankreich mehrfach ausgezeichnet und in Deutschland nominiert für den Jugendliteraturpreis 2012, ist ein großes, kleines Buch. Mit knapp hundertachtzig Seiten ist das Werk vom Umfang her ein Leichtgewicht. Seine Größe liegt jedoch in der Kraft seiner einfachen und doch anspruchsvollen Sprache und dem raffinierten Aufbau der Erzählung. Das Thema des Buchs ist höchst aktuell und die Erfahrung des jugendlich naiven Ich-Erzählers universell. Vor den Augen des Lesers werden Menschen hinter den anonymen Flüchtlingszahlen lebendig, ihre Motive, Wünsche, Hoffnungen und ihr Mut. So berührt dieses Flüchtlingsschicksal Jugendliche ab 13 und ebenso Erwachsene.

Anne-Laure Bondoux zählt in Frankreich bereits zu den anerkannten Kinder- und Jugendbuchautoren. Im deutschen Sprachgebiet sind Werk und Autorin bedauerlicherweise noch weitgehend unbekannt. Schade, denn eine so intensive Darstellung existenzieller Erkenntnisse und was Liebe und Hoffnung vermögen, habe ich noch nicht oft gelesen.

Irene Moesch-Gröbli, Bibliothek Teufen

Ortheil, Hanns-Josef. Die Erfindung des Lebens. - München : Luchterhand Literaturverlag, 2009.
(ISBN 978-3-630-87296-4)

In diesem grossen, stark autobiografisch inspirierten Roman erzählt Hanns-Josef Ortheil seine Lebensgeschichte. Eine Lebensgeschichte, die genau aus dem Stoff ist, aus dem grosse Romane entstehen. Sie ist in der Tat so ausserordentlich und wunderbar, dass sie von den ersten Seiten an sowohl das Interesse, als auch das Mitgefühl des Lesers weckt.
Aber lassen wir doch gleich Hans-Josef Ortheil selber zu Worte kommen und hören, wie er, in einem gekürzten Interview, aus seiner Jugendzeit erzählt:
„Ich wurde 1951 in Köln unter sehr merkwürdigen Verhältnissen geboren.
Meine Mutter und mein Vater hatten während des 2. Weltkrieges und in der Nachkriegszeit vier Söhne verloren. Ich wurde also in eine Familie geboren, in der ich der fünfte war. Die vier vorhergehenden Kinder waren nur in Bildern und der Vorstellung meiner Eltern existent, aber nicht mehr in der Realität.
Meine Mutter hat 1945 beim Tod meines vierten Bruders, der damals dreijährig am Ende des Krieges beim Einmarsch der Amerikaner gestorben ist, die Sprache verloren, so dass ich in einer Familie aufwuchs, in der nur der Vater sprach. Die Mutter war stumm. Durch die enge Anlehnung an die Mutter, die ich als dieses fünfte, nachgeborene Kind erfuhr, habe auch ich in den ersten sieben Jahren meines Lebens nicht gesprochen. Ich war sehr eng mit der Mutter zusammen, in einem Raum, der fast keine Kontakte zur Aussenwelt hatte. Meine Mutter lebte in einer grossen Angst, dass all das, was sie im Krieg und danach erlebt hatte, wieder passieren könnte.
Die Kommunikation in der Familie geschah durch Zettel. Meine Mutter hat jeden Tag aufgeschrieben, was sie an Aufträgen zu erledigen hatte oder andern an Aufträgen geben wollte.
Ich selbst habe meine Mutter bis zum siebten Lebensjahr immer nur schreibend und lesend, aber nie sprechend erlebt.
Der Beginn meiner Schulzeit war nicht leicht, weil ich als ein stummes Kind eingeschult wurde und man mich wie ein möglicher Sonderschüler behandelte. Man setzte mich irgendwo in die letzte Reihe und fand es nicht nötig, sich um mich zu kümmern.
In diesem Moment begann mein Vater zu handeln. Er hat sich längere Zeit beurlauben lassen, trennte mich von meiner Mutter und ist mit mir auf den grossen Bauernhof gezogen, wo er herkam und wo er selbst mit zehn Geschwistern aufgewachsen ist. In diesem halben Jahr auf dem Bauernhof habe ich unter sehr, sehr merkwürdigen Umständen und Bedingungen, von denen ich im Roman erzähle, sprechen gelernt.“ Tatsächlich gelingt es dem Vater, mit schier übermenschlicher Geduld, den Sohn, und später die Mutter ins wirkliche Leben zurückzuholen. Er, und schliesslich die Musik, vermögen es, die bedrückende Atmosphäre zu durchbrechen. Die Musik bringt endlich auch die Erlösung: Der Sohn lernt sprechen und die Mutter findet nach und nach die Sprache wieder.
Aus dem Kinde wird ein begnadeter Pianist, dem eine glänzende Zukunft winkt, bis eine schwere Sehnenscheidenentzündung den Traum auf eine Karriere als Solist zerstört und er gezwungen wird, ein Studium der Geisteswissenschaften aufzunehmen. Der Weg zum erfolgreichen Autor nimmt seinen Anfang. „Die Erfindung des Lebens“ ist der Roman eines Musikers, doch auch der Roman eines zwar begabten, aber behinderten Kindes. Es ist zugleich der Roman einer unbeirrbaren väterlichen Liebe, geschrieben in einer leisen, zögernden Sprache, die berührt und betroffen macht.

Ursi Lendenmann, BiblioGais

Grémillon, Hélène. Das geheime Prinzip der Liebe ; aus dem Französischen von Claudia Steinitz. - Hamburg : Hoffmann und Campe Verlag, 2012.
(ISBN 978-3-455-40096-0)

Beim Lesen eines Buches braucht es oft eine gewisse Zeit bis man mitten im Geschehen ist und sich in der Handlung zurechtfindet. Nicht so beim vorliegenden Roman. Hat man begonnen, ihn zu lesen, legt man ihn bis zum Ende nicht mehr aus der Hand. Vielleicht liegt es an Hélène Grémillons Affinität zum Film - die Autorin ist Regisseurin und Drehbuchautorin -, dass ihr Debüt ein bildgewaltiges und aus dem Leben gegriffenes Stück Literatur ist. "Ich konnte die Briefe so oft lesen, wie ich wollte. Die Vergangenheit blieb mir verschlossen."

Paris, 1975. Camilles Mutter ist bei einem Autounfall gestorben. Unter den vielen Kondolenzschreiben findet Camille den rätselhaften Brief eines Unbekannten, der die Geschichte einer faszinierenden jungen Frau erzählt: von Annie, der grossen Liebe des Verfassers, mit der er gemeinsam in einem kleinen Dorf unweit von Paris aufwächst. Camille glaubt an eine Verwechslung, da sie keine Parallelen zu ihrem eigenen Leben entdeckt. In den nächsten Wochen - jeweils pünktlich an einem Dienstag - folgen die nächsten Briefe. Sie erzählen von der begabten Malerin Annie und ihrer reichen Gönnerin, einer gewissen Madame M., die ungewollt kinderlos ist und seit Jahren krampfhaft und zunehmend verzweifelt versucht, schwanger zu werden. Ihr gesellschaftliches Umfeld trägt zu ihrer tiefen Verzweiflung bei, denn der erste Weltkrieg mit seinen vielen Toten fordert Kinder. Aus tiefer Dankbarkeit zu ihrer Mäzenin erklärt sich Annie bereit, ein Kind für sie zur Welt zu bringen. Doch was als tiefer Freundschaftsbeweis gedacht war, wird Quelle von Eifersucht, Misstrauen und Hass. Vor dem Hintergrund des erbarmungslosen Weltkrieges spielt sich ein erbitterter Kampf zwischen zwei Frauen ab, die denselben Mann und dasselbe Kind bedingungslos lieben … Camille ahnt zunehmend, dass die Geschichte einer für sie fernen Vergangenheit mehr mit ihr zu tun haben könnte, als ihr lieb ist.

Grotesk anmutende Geschichte mit überzeugenden Charakteren
Der Roman lebt von vielen unvorhersehbaren, manchmal grotesk anmutenden Ereignissen und Wendungen, die dem Leser erst Schritt für Schritt klar werden. Die Geschichte, die von vier Ich-Erzählern entschlüsselt wird, beginnt vorsichtig, verhalten, um dann den Leser zunehmend in den Bann eines verhängnisvollen Dramas zu ziehen. Die Autorin zeigt erschreckend klar auf, dass Schuld und Sühne unlösbar miteinander verknüpft und zwei Seiten einer Medaille sind. Die Charaktere sind überzeugend dargestellt und da sie mit fortlaufender Handlung die Beweggründe für ihr Handeln aufzeigen, stürzt der Leser in ein Wechselbad von Antipathie und Sympathie. Ist das eine grosse Thema des Romans Schuld und Sühne, so handelt das andere von der Lebenslüge. Eine Lebenslüge, deren zerstörerische Kraft nur aufgehalten werden kann, wenn der Erste den Mut hat, sie zu beenden. Fazit
Die Briefe, mit Hilfe derer die Geschichte erzählt wird, dienen als Rückblende und entschlüsseln die Gegenwart. Trotz der Tragik der Ereignisse, trotz Verrat. Betrug, Gewalt und versäumter Augenblicke handelt der Roman vor allem von einem: der Liebe. Jedem, der dieses Buch zur Hand nimmt, wird rasch klar werden, dass es fast unmöglich ist, sich seiner geheimen Kraft zu entziehen.

Cornelia Schmidli, Bibliothek Schwellbrunn

Asimov, Isaac. Die Stahlhöhlen : zwei Romane. - München : Heyne, 2003. (Heyne Taschenbücher, Nr. 7036.)
(ISBN 978-3-453-86362-0)

Ich habe die Angewohnheit, in alle meine Bücher meinen Namen plus das Datum zu schreiben, an dem ich mit dem Lesen begonnen habe. Es gibt ein Buch in meiner Sammlung, das hat die meisten Einträge. Wenn ich es in die Hand nehme und aufschlage, sehe ich, dass ich es schon sechs Mal gelesen habe. Begonnen hat diese Leidenschaft im September 1998: Damals schlenderte ich unentschlossen durch eine Buchhandlung in Winterthur, wandte mich schliesslich an einen jungen Buchverkäufer und fragte ihn nach „intelligenter Science Fiction“. Spontan verwies er mich auf Isaac Asimovs „Stahlhöhlen“. Trotz meiner Zweifel bezüglich des trashigen Covers und meines Vorurteils gegenüber des Verlages (ein Freund von mir pflegte damals zu sagen: „Heyne-Bücher sind Schweine-Bücher“), kaufte ich das Taschenbuch. Drei Tage später sass ich im Garten unter meiner Leseplatane im Liegestuhl und begann voller Erwartung mit dem ersten Kapitel. Schon nach wenigen Seiten geriet ich in einen Lesefluss, dem ich mich nicht mehr entziehen konnte; nur noch meine Grundbedürfnisse (Ernährung, Toilette und Schlaf) unterbrachen die Erstlektüre. Die Handlung dieses Kriminalromans spielt in der fernen Zukunft: Die Menschheit kämpft gegen Überbevölkerung, Rohstoffknappheit und soziale Missstände. Da Platz immer rarer wird, haben sich die grossen Städte zu Mega-Cities zusammengeballt, die vor allem unterirdisch weiterwachsen. Demgegenüber steht eine Gesellschaft, die Jahrhunderte vorher die Erde verlassen hatte, um erfolgreich neue Planeten zu besiedeln und auf denen mittlerweile Wohlstand und Frieden herrscht. Inmitten dieses Umfeldes wird ein berühmter Wissenschaftler ermordet und durch die daraus entstehenden diplomatischen Verwicklungen drohen die Beziehungen zwischen der „alten“ und den „neuen“ Welten  zu eskalieren. Ermittler Elijah Baley erhält den beinahe unlösbaren Auftrag, den Mörder und dessen Motive aufzudecken. Erschwerend kommt hinzu, dass ihm ein humanoider Roboter als Gehilfe zugeteilt wird. Und so entwickelt sich vor dem inneren Auge des Lesers schon beinahe eine Art Buddy-Movie, in dem die zwei Detektive unterschiedlicher kaum sein könnten. Nach einen furiosen Finale war ich begeistert wie selten nach einem Buch und ich gierte förmlich nach mehr (und tatsächlich gibt es zwei weitere Romane mit demselben Ermittler-Duo: „Die nackte Sonne“ und „Der Aufbruch zu den Sternen“). Es sind mehrere Gründe, die diesen intelligent konstruierten Science-Fiction-Krimi auszeichnen: Zum einen wird dem Leser in klassischer Agatha-Christie-Manier im ersten Akt ein scheinbar unlösbarer Fall präsentiert, im zweiten alle möglichen Täter vorgestellt (natürlich mit Alibi) und schliesslich in einem überraschenden Schlussakt der Mörder entlarvt. Zum anderen schreibt Asimov flüssig und verständlich; seine Sprache lässt äusserst lebendige Bilder entstehen. Zugleich gelingt es ihm auch noch, gesellschaftliche und philosophische Fragen aufzuwerfen, die zum Nachdenken anregen.
Und jetzt, nachdem ich diese Rezension beendet habe, ahne ich, dass es wieder mal höchste Zeit wird, dieses Buch hervorzunehmen, das aktuelle Datum auf der ersten Seite zu notieren und mit dem ersten Kapitel zu beginnen: „Gespräch mit einem Kommissar“.

Gerold Ebneter, Kantonsschulmediothek Trogen

Valencak, Hannelore. Die Höhlen Noahs : Roman. -  St. Pölten : Residenz Verlag, 2012.
(ISBN 978-3-7017-1582-4)

Weit und breit keine Arche!

Wie Romanfiguren Weltuntergänge dennoch überleben Von Zeit zu Zeit kommen seltsam finstere Daseins-Entwürfe in die Bücherläden (vielleicht auch in Gemeindebibliotheken). Sie machen da Furore und verschwinden dann wieder aus den Regalen – verschwinden in die Bucharchive oder Privatbibliotheken. Eigenartig daran: der Markt ist doch nie recht satt; Marlen Haushofers Roman „Die Wand“ ist wieder und wieder herausgegeben worden, 1963 erstmals erschienen, 1968 und 1983 wiederaufgelegt und seither mehrmals neu ediert worden, so als wäre die Leserschaft, was Untergangs-Szenarien betrifft, nicht launisch, sondern bloss vergesslich. Liegt unser kurzes Gedächtnis am Ende nur daran, dass wir uns nicht gerne Angst machen lassen? In aller Regel suchen wir doch den Kitzel, gieren nach – allerdings erfundenen – Schrecken, muten uns die Anschauung von Horror und den Konsum endzeitlichen Geschehens gar gerne zu. Insbesondere dann, wenn das katastrophal Fürchterliche im Irgend- oder Nirgendland passiert – wenn der Thriller utopisch ist oder die Apokalypse in der Zukunft spielt. In den Büchern, auf die ich hinweisen will, liegt die Eklipse oder Katastrophe allerdings immer schon in der Vergangenheit. Die Romanfiguren sind meist einsam Überlebende (man erinnere sich an Robinson). Sie haben ein schweres individuelles Geschick oder einen kollektiven Untergang hinter sich und müssen oder sollten ein extremes Dasein meistern. Im süsslichen Fall resultiert eine Existenz in einer Art Garten Eden, im Schlaraffenland, in Arkadien oder Wolkenkuckucksheim; ist die Geschichte endzeitlich angelegt, so geht Held oder Heldin unter. Zukunftsroman mit der Vision ewigen Friedens oder Weltuntergang mit Rückbau des Schöpfungsgedankens...

Zukunfts-Entwurf / Untergangs-Vision
1950 ist in Zürich Rudolf Schotts Roman erschienen, den man unters Motto „im Jahr 449 nach dem grossen Blitz“ stellen dürfte. Bevor ein mustergültiges Staatswesen entstehen und auf Dauer angelegt sein kann, muss sich ein überindividueller Untergang ereignen. Krieg, Chaos, Wahnsinn – dann die Bombe, der Lichtschlag, ein kontinentweites Beben, dann Nacht. Im tiefsten Kellergewölbe einer klösterlichen Anlage kann einer überleben. Dank weitsichtig angelegter (heute sagt man:)  „Ressourcen“ ist Fortexistenz gesichert. Überbliebe kein Ich, so könnte ja keiner Zukunft erzählen – und schon gar nicht glücklich gestaltete mit traumhaft friedlicher Koexistenz aller Geschöpfe. – Der Buchtitel lautet „Die Inseln des Domes“ (Origo-Verlag). Mit dem erwähnten Trick der vorausschauend plazierten Überlebensmittel (Zündhölzchen z. B.), ausserdem mit Beigabe der richtigen Säugetiere, verfährt auch Marlen Haushofer in der „Wand“. Eine wieder eher politische als elementare Macht hat alles Lebendige in Totenstarre versetzt. Eine Frau richtet sich diesseits einer Wand bzw. unter einer Schutz bietenden Kuppel ein – wie weiland Robinson auf seiner Insel. Zukunft hängt ab davon, ob Mensch und Haustier Geschlechtspartner finden, ob also die Fortpflanzung der Geschöpfe gelinge, welche die Welt massgeblich fortgestalten. Tritt der Mann auf als Töter, so ist ein apokalyptisches Ende zu mutmassen. Mit einer Apokalypse, einer Auslöschung, endet 1984 Rolf Arnold Müller seinen Roman „Der letzte Held“ (Zürich: Edition Kürz). Es ist eine Selbstauslöschung, und zwar nach der wissenschaftlich inszenierten Einsamkeit eines Familienvaters in einer Zentralschweizer Höhlenanlage. Nach dem sechs Monate sich ziehenden unterirdischen Aufenthalt (Buchhälfte „Drinnen“) findet der Held die recht für recht nur provisorisch verlassene Welt des Schweizer – und umliegend europäischen – Mittellandes vernichtet vor. Alles Lebendige ist definitiv ausgelöscht; im „Draussen“ stellen sich keine Fragen mehr nach Daseins-Sinn und Fortzeugung – das Sich-fallen-lassen des Helden über die Brüstung des Üetlibergturms ist konsequent und passt zum Wüten des Weltenbrands.

Noch eine Höhlen-Existenz
In Hannelore Valencaks Roman ist die Problematik geschlechtlicher Fortsetzung, welche Zukunft stiften würde, komplexer. Das liegt daran, dass in die „Höhlen Noahs“ (Höhlen, nicht Arche!) eine Gruppe von Fliehenden gerät.
Flüchtlinge, welche nach Bombardements dem Feuerinferno und insgesamt zerstörten Lebensgrundlagen entkommen sind und in einem Hochtal ein Réduit finden. Nebst einem schwierigen Alten, nebst dessen Enkelin namens Luise und einer Magd fristen unterschiedlich lange ein junger Retter, eine mannbare Frau und deren anfänglich noch knabenhafter Bruder archaisches Leben im Gebirge: als Sammler und als Hüterinnen von Herden. Nachdem ein Verhältnis zwischen Retter und Protagonistin vom Alten hintertrieben ist, bleiben für eine menschenfruchtbringende Beziehung nur noch Schwester und Bruder, Martina und Georg. Valencak schildert das Zusammen-Kommen der beiden wie auch das Schuldbewusstsein darnach wenn nicht unnachahmlich so doch tief berührend. Wie bei Haushofer – aber Valencaks Buch ist zwei Jahre vor der „Wand“ erschienen – ist einer der Männer ein Töter (ein „Kain“); wie bei der Zeitgenossin büsst Valencaks Alter mit dem Leben. Vom Zeitpunkt an, wo auch Martina aus dem Roman fällt (es ist beinah der Buchschluss), obliegt es der Leserin, für Georg, für sein und seiner Schwester Kind und für die bisher geschlechtslose Luise ein Fortleben zu imaginieren.

Rainer Stöckli, Gemeindebibliothek Reute

Wells, Benedict. Fast Genial. - Zürich : Diogenes, 2011.
(ISBN 978-3-257-06789-7)

„Das wichtigste ist, dass du deine ganzen beschissenen Träume und Hoffnungen packst und sie nie mehr loslässt“, hatte er gesagt. „Du kannst schreien, du kannst verzweifeln, du kannst winseln. Doch selbst wenn du schon kaum mehr an dich glaubst, du darfst sie nicht loslassen. Denn wenn du's tust, dann ist's aus, Kleiner. Ab dem Zeitpunkt ist dein Leben vorbei.“

Genau diese Lebensweisheit seines dealenden Nachbars nimmt sich der fast achtzehnjährige Francis Dean zu Herzen und versucht aus seinem Leben und aus Claymont rauszukommen. In seinem dritten Roman erzählt Benedict Wells die Geschichte von Francis, der mit seiner depressiven Mutter in einem Trailerpark in New Jersey lebt und sein Leben bereits dort enden sieht. Als er jedoch eines Tages die Wahrheit über seine Zeugung erfährt, macht er sich mit seinem besten Freund Grover, einem verschrobenen Superhirn, und der psychisch labilen Anne-May auf eine unvergessliche Reise quer durch Amerika, um seinen Vater zu finden. Von New York durch den mittleren Westen bis nach Las Vegas und sogar nach Mexiko führt die Suche nach der eigenen Identität und dem genialen Wissenschaftler, der angeblich Francis Vater sein soll. Dieser Erkundungs – und Selbstfindungstrip ist gespickt mit Briefen der Mutter und Artikeln über die Samenbank der Genies, die es in Amerika wirklich gegeben hat. Auch diese Geschichte des jungen deutschen Autors besticht mit einer Ehrlichkeit, die so echt ist, wie das Leben. Teilweise wird es sogar etwas verträumt oder philosophisch, aber nie kitschig. Fast genial ist eine Geschichte, wie sie nur das wahre Leben schreibt und gespickt ist mit interessanten Lebensweisheiten. So ist der Tod objektiv gesehen, das Beste, was den Menschen passieren konnte. Denn er zwinge sie, sich dem Leben zu stellen, jede Sekunde davon zu geniessen und sich zu verwirklichen. Er sei das einzig richtige Ende, notwendig und ein starker Antrieb. Subjektiv gesehen sei der Tod aber immer noch scheisse. Trotz der eher traurigen Geschichte und dem Mitleid, das man für den Protagonisten entwickelt, ist der Roman erfrischend ehrlich und schlägt einen neuen unangestrengten Ton an. Der 28jährige Benedict Wells wurde in München geboren und zog nach dem Abitur nach Berlin. Seinen ersten Roman „Spinner“ schrieb er bereits mit neunzehn. Dieser wurde jedoch erst 2009 veröffentlicht. Sein Debüt „Becks letzter Sommer“ erschien 2008 und wurde mit dem Bayerischen Kunstförderpreis ausgezeichnet. Zur Zeit lebt er in Barcelona und schreibt an seinem vierten Buch.

Annina Schönenberger, Volksbibliothek Appenzell

 

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