Unsere monatlichen Tipps aus den Lokalzeitungen zum Nachlesen
Mingels, Annette. Tontauben : Roman. - Köln : DuMont Buchverlag,2009.
(ISBN 978-3-8321-9611-0)
Danach
Annette Mingels beschreibt in ihrem neusten Buch "Tontauben" den Umgang mit Verlust, Schuld, Trauer und die über alles stehende Liebe. Sehr einfühlsam erzählt sie im ersten Teil "Danach" wie David und Anne den tragischen Verlust ihrer erst dreizehnjährigen Tochter Yola zu verarbeiten versuchen. Ihre Ehe droht am niemals endenden Schmerz und an den Gedanken, die sich nicht abstellen lassen, zu zerbrechen. Auf sehr unterschiedliche Weise versuchen sie ihren Alltag trotzdem zu bewältigen. Während David sein Leben ohne Veränderung, so normal als möglich, weiterlebt, sucht Anne nach anderen Inhalten. Auf dem Weg ihrer Neuorientierung lernt sie in ihrem Psychologen einen Menschen kennen, der sie als Frau und nicht als trauernde Mutter wahrnimmt, und geht mit ihm ein Verhältnis ein.
Davor
Zeitlich ungefähr ein Jahr früher beschreibt Annette Mingels im zweiten Teil "Davor" wie sich Frank und Esther, beide verheiratet, rein zufällig während eines Kongresses kennenlernen. Aus der anfänglichen Skepsis füreinander entwickelt sich eine Beziehung, welche zwischen Skrupel und dem wunderbaren Gefühl der neuen Leidenschaft hin und hergerissen ist. Als der Kongress zu Ende ist, bleiben die beiden Liebenden noch ein Wochenende länger. Mit einem Telefonanruf informiert Esther ihren Mann, dass sie noch ein paar Tage Ruhe brauche. Dieser unterstützt ihre Idee und stimmt ihr sofort zu, sie solle doch ruhig ein paar Urlaubstage anhängen. Er würde ja auch gerne kommen, könne aber leider seine Praxis nicht schliessen. Nach diesem Gespräch hatte Esther das Gefühl ihren Mann noch nie zuvor so sehr geliebt zu haben. "Und wenn er untreu war? Wenn er froh war, dass sie länger fortblieb? Vielleicht war das der Preis, den sie bezahlen musste für diese Affäre: dass sie mit dem Vertrauen in sich auch das in ihn verlor. Was wenn es am Ende nur Verlierer gäbe…. ." Auch hier sind Schuld und Liebe die zentralen Themen, die Annette Mingels mit einer wunderbaren Wortwahl kühl, sachlich, aber äusserst präzise und treffend formuliert.
Am Schluss lässt sie mit viel Geschick die beiden Geschichten zusammenlaufen und fügt sie zu einem Ganzen. Der Moment, indem sich die beiden Erzählungen auf einen gemeinsamen Punkt zubewegen, ist einer der besten des ganzen Buches.
Wie Annette Mingels von Lebensträumen, den Selbstvorwürfen, der Sinnsuche und ihren kleinen Grausamkeiten erzählt, das ist hohe sprachliche und psychologische Kunst, deren Werkzeug sie sich während dem Studium der Germanistik, Linguistik und Soziologie in Frankfurt, Köln, Bern und Fribourg aneignete. Sie wurde 1971 in Köln geboren und lebt heute mit ihrer Familie in Montclair/USA.
Eine letzte Frage bleibt
Was will Annette Mingels mit ihrem Titel Tontauben aussagen? Nur einmal am Anfang des ersten Erzählstrangs macht sie im Buch eine Verknüpfung zum Titel. "Eine Tonscheibe wird in die Luft katapultiert und der Mann schiesst. Anne kann nicht erkennen, ob er getroffen hat. Müsste sie nicht die Scherben sehen?" Müsste man im Leben nicht auch viel mehr sehen? Aber ist dies ohne erkennen überhaupt möglich? Annette Mingels wertet nicht, sie lässt den Leser fassungslos zurück und die Frage nach der Schuld stellt sich einem noch lange nachdem man das Buch schon gelesen hat.
Karin Sutter, Bibliothek Teufen
Härtling, Peter. Paul das Hauskind : Jugendbuch. - Weinheim Basel : Beltz & Gelberg 2010.
(ISBN 978-3-407-79977-7)
Einen etwas merkwürdigen Eindruck macht das Buch schon! Der Autor ist bekannt. „Ben liebt Anna“, „Krücke“, „Tante Tilli macht Theater“ oder „Reise gegen den Wind“ haben wir längst gelesen, Peter Härtling ist uns Leseratten ein Begriff. Der Titel ist wie mit einer alten Schreibmaschine oder vielleicht doch mit dem Aquarellpinsel geschrieben? Im Zentrum des Umschlags steht ein seltsames, aber spannendes Haus, rosa! Davor ein etwas blasser, leicht verunsichert lächelnder Junge.
„Paul das Hauskind“. Was ist ein Hauskind?
Jetzt schlägt man das Buch auf und findet als erstes nochmal das Bild des Hauses. Diesmal ist jede Wohnung beschriftet, von Hand in schiefen und krummen Druckbuchstaben: Namen der Bewohner, ab und zu ein passender Spitzname, ihr Beruf. Zehn Partien in einem vierstöckigen Haus plus Dachgeschoss.
Dr. Adam Schwarzhaupt, der Anwalt im Ruhestand; die Inhaber eines Geschäftes für Brautmoden; ein Oberstudienrat und eine Sozialarbeiterin; ein Gewürzhändler; ein Taxifahrer; Oma Käthe, die ehemalige Schneiderin und schliesslich ganz oben die Beerbachs, Paul und seine Eltern, ein Werbefachmann und eine Journalistin. Eine gemischte, etwas illustere Gesellschaft, in der es auch hin und wieder ordentlich kracht, etwa wenn der Kater der Brautmoden mal wieder seine Duftmarken im Treppenhaus hinterlässt. Noch ist die Frage: Was ist ein Hauskind? nicht beantwortet. Eine andere Frage ist ob „Paul das Hauskind“ überhaupt ein Kinderbuch ist? Ja, ein Kinderbuch insofern, als Kinder es verstehen können, Kinder vor allem, die für Probleme des gestörten Familienlebens und Alleingelassenwerdens sensibilisiert sind. Sie finden in den Auswegen, die dieses Buch bietet, vielleicht so etwas wie Trost, in jedem Fall Verständnis. Vielmehr ist es aber ein Buch, das sich an die Erwachsenen wendet, die Erwachsenen mit Kindern, die sie im Stich lassen ohne die Schäden zu ahnen, die sie in den Kinderseelen hinterlassen.
Peter Härtlings Buch ist ein Meisterwerk, das mit so leisen Worten daher kommt, dass man sie überhören mag, vor allem, weil sie unbequem sind. Ein Buch, in dem das Thema Menschlichkeit aus den unterschiedlichsten Perspektiven zu einer ergreifenden Geschichte verwoben ist. Hier wird keiner verurteilt, weder die Mutter, die die Familie allein lässt, noch der Vater, der dem Druck des Berufs und der alleinigen Verantwortung gegenüber dem Sohn nicht gerecht wird und an der Seele erkrankt.
Paul, aus dessen Sicht wir von der Ereignissen erfahren, vermittelt herzergreifend seine Hilflosigkeit und Einsamkeit, seine Wut, seine Scham und seine Angst, seine Hoffnungen, seine Träume, die fast alle unerfüllt bleiben. Ist es das, was Erwachsenwerden ausmacht? Abschied nehmen von den kindlichen Hoffnungen und Wünschen und die Traurigkeit als Teil des Lebens akzeptieren?
Es wäre ein deprimierendes Buch, wäre Paul nicht eben das Hauskind, neben Helena das einzige Kind im Haus. Ein Hauskind, das weckt Erinnerungen an ein Haustier, das man hält und für das man nur begrenzt verantwortlich ist, das man abgeben kann, wenn es lästig wird oder nicht mehr ins Leben passt. Ein bisschen ist es auch mit Paul so. Seine Mutter ist in New York und bald steht fest, dass sie nicht zurückkommt. Die Eltern werden sich scheiden lassen, der Vater ist beruflich tage- und wochenlang unterwegs, und Paul wird allein sein. Nicht ganz allein, denn Oma Käthe versorgt ihn, was ihm zunehmend gefällt, aber Oma Käthe kommt ins Spital und Paul ist wieder allein. Jetzt beginnt für Paul eine Odyssee durch das Haus. Jeder will ihm etwas Gutes tun und bietet ihm ein Zuhause – auf Zeit. Denn der eine muss beruflich wegfahren, da beginnen die Ferien im Ausland, dort ist das Gästezimmer anderweitig belegt. Paul wird hin und her geschoben. Gut hat er Dr. Adam, einen ruhenden Pol, der ihm hilft mit seinen Gefühlen umzugehen.
Ja, so wie das Haustier sich anpassen muss, so muss auch das Hauskind manche Eigenheit aufgeben, andere akzeptieren und lernen, sich ständig auf eine von anderen Menschen abhängige Lebensweise ein- und umzustellen. Unmerklich ändert sich im Laufe der Ereignisse die Bedeutung des Begriffs Hauskind. Paul wird zwar immer noch herumgereicht, aber er ist nicht mehr heimatlos. Das Haus ist das Zuhause und Paul wird ein Teil davon.
Ein sehr nachdenklich stimmendes Buch, bei dem man Pauls Gefühle teilt und mit ihm manchmal um sich schlagen und manchmal mit ihm laut singen möchte. Grossartig!
Franziska Bannwart, Gemeindebibliothek Heiden
Alain-Fournier, Henri. Der grosse Meaulnes. - Frankfurt a.M. : Suhrkamp, 2003.
(ISBN: 3-518-39998-5) Weitere Ausgaben sind zur Zeit bei Manesse und Thiele erhältlich.
„Sie haben Le Grand Meaulnes nicht gelesen? Das Buch ist wunderbar.“ (Umberto Eco in: Die grosse Zukunft des Buches)
Tatsächlich ist dieses Buch von Alain-Fournier (eigentlich Henri-Alban Fournier) zauberhaft und wunderbar. Seit ich es vor fünf Jahren zum ersten Mal gelesen habe, hat mich diese magische Geschichte um eine zarte und letztendlich tragische Liebe nicht mehr losgelassen. Wenn man die Zeilen liest, fühlt man sich in eine längst vergangene Zeit versetzt, eine Zeit an der Schwelle zum 20. Jahrhundert. Aber auch die eigene Jugend wird mit äusserst lebendigen Bildern heraufbeschworen. Eine Vergangenheit, in der man voller Neugier auf der Suche nach einer eigenen Identität war, Zeiten der ersten grossen Sehnsüchte und Liebe. „Le Grand Meaulnes“ ist eines jener kostbaren Bücher, das derart geschrieben ist, dass man sich den ganzen Tag auf den Feierabend freut, um erneut in die faszinierende Handlung einzutauchen.
Ende des 19. Jahrhunderts taucht der 17-jährige Augustin Meaulnes in dem französischen Provinzdorf Saint-Agathe auf, um dort die Schule zu besuchen. Der neue Schüler wird vor allem für den wohlbehüteten Lehrersohn Francois Seurel zum grossen Vorbild, ja geradezu zur Leitfigur. Zwischen den beiden entwickelt sich eine wunderbare Freundschaft. Eines Tages jedoch verirrt sich Meaulnes alleine auf einer Kutschenfahrt und gerät in immer unwegsameres Gelände. Pferd und Wagen zurücklassend irrt er durch ein riesiges und völlig unbekanntes Waldgebiet, stösst dabei jedoch unverhofft auf ein kleines Schlösschen, auf welchem soeben eine Hochzeitsfeier stattfindet. Meaulnes mischt sich spontan unter die Gäste und lernt dabei die Schwester des Bräutigams, Yvonne de Galais, kennen. Die beiden verlieben sich sofort ineinander. Beim allgemeinen Aufbruch am Ende des Festes wird Meaulnes von anderen Gästen mitgenommen, schläft jedoch in der Kutsche ein und wird am nächsten Morgen schlaftrunken auf einer Landstrasse abgesetzt. Schliesslich erreicht er auf Umwegen wieder Saint-Agathe. In den folgenden Wochen versucht Meaulnes verzweifelt, den Weg zu Yvonnes Schloss zu rekonstruieren. Die Suche nach dem verlorenen Pfad, und damit zurück zu Yvonne, gestaltet sich jedoch weitaus schwieriger und geheimnisvoller als erwartet. Als es schliesslich dennoch zum ersehnten Wiedersehen zwischen Yvonne und Meaulnes kommt, geschieht etwas Unerwartetes… Es dauert beinahe vier Jahre, bis Francois auf dem Dachboden die Tagebuchaufzeichnungen von Augustin Meaulnes entdeckt, und damit schliesslich das ganze Geheimnis auflösen kann.
Die Geschichte, die Alain-Fournier 1913 geschrieben hatte, trug deutlich autobiographische Züge. Begegnete er doch einige Jahre zuvor im tatsächlichen Leben Yvonne de Quièvrecourt, einer ungewöhnlich schönen jungen Frau, die er dann aber aus den Augen verloren hatte und dennoch jahrelang liebte. Diese unerfüllte Liebe verarbeitete Alain-Fournier in seinem ersten und leider auch einzigen fertiggestellten Roman. Als im Sommer 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, wurde Alain-Fournier eingezogen und fiel am 22. September desselben Jahres südlich von Verdun. Der tragische Tod des erst 28-jährigen Autors mochte nicht ganz unbeteiligt am Ruhm des „Grossen Meaulnes“ gewesen sein. Der Roman wurde zum Kultbuch einer ganzen Generation und schliesslich zweimal verfilmt.
Gerold Ebneter, Kantonsschulmediathek Trogen
Kurkow, Andrej. Der Milchmann in der Nacht. Roman ; übersetzt von Sabine Grebing. - Zürich : Diogenes, 2009.
(ISBN 978-3-257-06727-9) Auch als Taschenbuch erhältlich.
Ist dies nun ein Liebesroman, ein Krimi, eine schwarze Komödie oder Politsatire? Andrej Kurkow schafft alles in einem. Er erzählt parallel von drei jungen Paaren, deren Schicksale die Absonderlichkeiten in ihrem Heimatland Ukraine widerspiegeln.
Gefragte Muttermilch
Da ist einmal Irina aus dem Dorf Lipowka, die jeden Morgen kurz nach vier Uhr aufsteht, die Fertigmilchmischung für ihr kleines Töchterchen anrührt und bei Eiseskälte eine Stunde mit Bus und U-Bahn nach Kiew fährt, um sich für Geld ihre Milch abpumpen zu lassen. Anders als sie meint, ist die Milch nicht für ein Kind reicher Eltern bestimmt sondern als Wundermittel für einen Parlamentarier. Als sie sich verliebt und nicht mehr länger Amme sein will, schickt der Abgeordnete seine „Leute“, um sie unter Druck zu setzen.
Ein Personenschützer lässt sich selber observieren
Parallel erzählt der Autor vom Personenschützer Semjon, der nachts als Schlafwandler durch die Strassen Kiews geistert. Hat er etwas mit dem Mord am Apotheker zu tun? Veronika läuft es eiskalt den Rücken hinunter, als sie Blut an seinem Hemd findet. Doch lieber findet sie sich mit der Vorstellung ab, dass ihr Ehemann nach zwölf gemeinsamen Jahren eine Affäre mit einer andern Frau hat, als herauszufinden, dass er ein Mörder ist. Trost findet sie bei der Apothekerswitwe, die den Verstorbenen plastinieren lässt, um nicht allein zu sein. Geheimnisvoller Koffer
Die dritte Geschichte handelt von Dima und seiner Frau Walja. Unausgeschlafen und müde will Dima seine Schicht bei der Zollkontrolle beenden, als sein Schäferhund Schamil aufgeregt an einem schwarzen Koffer schnüffelt. Zwei Kollegen überreden ihn, die „Beute“ nicht an die Obrigkeit abzuliefern, sondern sie zu teilen. Die darin gefundenen Ampullen lassen die drei Männer vom Kater Murik testen, der daraufhin verschwindet. Mit dem gestohlenen Koffer handelt sich Dima eine ganze Kette von Problemen ein.
Meisterhafter Erzähler
Mit Ironie und schwarzem Humor erfindet Andrej Kurkow absurde Ereignisse so phantastisch, wie sie vielleicht nur in der Ukraine möglich sind. Als Kenner der kommunistischen und postkommunistischen Politik zeichnet er das Bild einer total verkommenen Gesellschaft, deren „Obere“ nur auf den persönlichen Vorteil aus sind. Seine Botschaft lautet: Traue niemandem, schon gar nicht den Volksvertretern, auch nicht dem netten Psychiater, der sich als Kopf einer Schattengesellschaft entpuppt.
Trotz aller Absurditäten kommt nie das Gefühl auf, dass man es mit albernen Karikaturen zu tun hat. Grossartig und liebevoll charakterisiert Kurkow seine Figuren mit ihren Schwächen und Geheimnissen, so dass sie einem richtig nahe kommen. Ein Lesevergnügen erster Güte! Der Autor ist 1961 in Petersburg geboren und lebt seit seiner Kindheit in Kiew (mit Zweitwohnsitz in London). Er studierte Fremdsprachen (spricht selber elf Sprachen), arbeitete als Kameramann, Journalist und Herausgeber einer Zeitung und schrieb zahlreiche Romane, Kinderbücher und mehrere Drehbücher. Mit „Picknick auf dem Eis“ wurde er im deutschsprachigen Raum berühmt. Seit 1996 ist er freier Schriftsteller und arbeitet nebenbei für Radio und Fernsehen. Ins Deutsche übersetzt wurde der Roman von Sabine Grebing.
Elisabeth Siller, Bibliothek Herisau
Storz, Claudia. Federleichter Viertelmond : Gedichte und Miniaturen aus einem halben Leben ; mit Zeichnungen nach Regelvorgaben der Rangoli (Bodenbilder). - Bern : eFeF, 2005.
(ISBN 798-3-905561-65-4)
Bach und Fluss der Ostschweiz im Gedicht
Einverstanden, fällig wäre – unter solchem Titel und in dieser Zeitung – ein Reimpaar wie "Dort mit gold'nem Lichtgezitter / Schlängelt sich die klare Sitter" (Adolf Stöber, 1850). So gleichermassen künstliche wie behagliche Texte zu Appenzeller Wasserläufen sind aber nicht häufig; Bach und Fluss machen beliebteren Sujets wie Berg und See selten Konkurrenz. Kommen auch gegen Inseln (dort, wo's hat) nicht an. Lassen dem dichterischen Lob der Gipfel und Grate den Vortritt, dem poetischen Preis der Seelandschaften und ihrer Eilande (Mainau / Ufenau / Insel Werd / Isole Borromee / Reichenau / St. Petersinsel). Es hat mich vor vierzig Jahren erstaunt, bei Gottfried Keller Gedichte über den Vorderrhein und die Via mala zu finden. Noch weniger erwartet habe ich jedoch vor fünf Jahren die Gedichte mit den Themen "Tamina" und "Junger Rhein". Sie stammen von der Aargauer Erzählerin Claudia Storz; geradezu verblüffen könnte einen ihr Selbstporträt mit der Überschrift "Rotkäppchen an der Quelle Tamina". Korb, Käppchen, Wein, Wolf – fast alles ist darin; allenfalls die Grossmutter und ein Kuchen fehlen. Als Jägersmann darf man zuguterletzt Rilke oder Paracelsus küren, ganz nach Vorzug. Claudia Storz (die Autorin, die im Gedicht "ein rot Käppchen auf hat") ist 1948 in Zürich geboren, hat knapp 30-jährig zu publizieren begonnen, mehrere Bücher erfolgreich auf den Markt und auch ins Gespräch gebracht. Erst vor wenigen Jahren hat sie Dichterisches bzw. Miniaturen veröffentlicht: unter dem schönen Titel "Federleichter Viertelmond". In dieser Sammlung, herausgebracht vom eFeF-Verlag, liest man mehrere "Aare"-Gedichte, ein "Seine"-, ein "Maggia"- und ein "Tejo"-Gedicht, liest dies über ein Fliesswasser in Paris, jenes über einen Bach in London, manches über Wasserfälle in Südamerika, Flüsse in Spanien, endlich die Donau (Storz heisst sie "einen grünen Wurm / zwischen weissen Kieseln"). Erwähnenswert sind gewiss auch Storz' See- und Insel-Texte (Hallwilersee, Golzernsee; Elba), daneben weitere Wasserfall-Texte. Aber näher gehen einem hierzulande die ganz wenigen Mundartgedichte: eines über Ròòtschlääg und Vòòrschlääg, ein anderes über Glückspilze und Pechmarien. Intrigant, dass in der hiermit empfohlenen Sammlung ein Text "Die Kindermuschel" erscheint, der 1987 in Schmidt-Cadalberts/Trabers Mundart-Anthologie noch in Dialekt vorgelegen hat: "Chindermuschle". Wer imstand ist, die beiden Fassungen zu vergleichen, findet eine Teilantwort auf die merkwürdige Diskussion, ob man momentan bzw. künftig in Kindergärten der deutschsprachigen Schweiz dann und wann Mundart oder eben nur Mundart oder, im Gegensatz dazu, ausschliesslich Schriftsprache reden solle (genau genommen: die Sprache des Bilderbuchs, der Television, der Spiele und Games). Eine Antwort, die man – auch die Bildungspolitiker, so sie lesen – seit Jahrzehnten in doppelsprachig vorgelegter Schöner Literatur abholen könnte, z. B. in Kuno Raebers sowohl "hochdeutschen" als auch "Luzerner alemannischen" Texten.
Rainer Stöckli, Gemeindebibliothek Reute
Oksanen, Sofi. Fegefeuer ; aus dem Finnischen von Angela Plöger. - Köln : Kiepenheuer & Witsch, 2010.
(ISBN 978-3-462-04234-4)
Die vom Leben gebeutelte, enttäuschte und desillusionierte Aliide Tru findet 1992, ein Jahr nach der Befreiung Estlands aus den Fängen der Sowjetunion, im Garten ihres Bauernhauses die halbtote Zara - zufällig, wie sie zuerst glaubt. Das malträtierte Mädchen ist auf der Flucht vor ihren Zuhältern, die sie mit brutalster Gewalt zur Prostitution gezwungen haben und ihr nun dicht auf den Fersen sind. Zara sucht an diesem verlassenen Ort keineswegs zufällig Zuflucht, denn die Bäuerin Aliide ist die Schwester ihrer Grossmutter. Trotz tiefem Misstrauen nimmt die harte Aliide das Mädchen in ihr Haus auf und pflegt es. An diesem Startpunkt schliesst sich zugleich der Handlungsbogen, der im Jahre 1936 in diesem Gehöft begann und Estland, Wladiwostok, Berlin und schliesslich wieder Estland umspannt. Fünf Jahrzehnte des Kriegs, der Verwüstungen, des Nationalsozialismus und des Kommunismus sind vergangen.
Zwei ungewöhnliche Schicksale
Zaghaft und argwöhnisch begegnen sich die zwei ungleichen Frauen. Beide haben unter Despotismus, Demütigung und Ausbeutung gelitten: Zara als Kind einer durch Krieg traumatisierten und deportierten Mutter und später als Prostituierte; Aliide durch die Qualen von Verhören, Vergewaltigung und Folter, die sie während der kommunistischen Besetzung wegen Unterstützung ihres geliebten Schwagers, einem Widerstandskämpfer, erleiden musste. Die Bäuerin hat jedoch selbst Schuld auf sich geladen, als sie die eigene Schwester Ingel und deren Tochter Linda - die Mutter Zaras - verriet und sie damit der Deportation nach Sibirien auslieferte. Ihre Schwester, schön, anmutig, strahlend und durch das Schicksal begünstigt bekam den Mann, den Aliide leidenschaftlich für sich begehrte. Ingel und Aliide sind verstrickt in ewiger Konkurrenz um Liebe, Männer, das Erbe. Das Gehöft trägt Spuren des Schreckens. In einer verborgenen Kammer wurde nämlich Ingels Mann Hans über Jahre versteckt.
Oksanens Sprache
Der Roman heisst auf Estnisch "Pudhistus", was Reinigung bedeutet und so auf die stalinistischen Exzesse anspielt. Die Sprache Oksanens tastet sich über das Unaussprechliche hinweg. Die gefolterten Seelen der Frauen versuchen auszuweichen, zu verdrängen, weil sie sonst den Schmerz und die Demütigung nicht ertragen könnten. Doch das Erlittene, Unsagbare ist tief eingegraben im Körper der Geschundenen. Die Autorin arbeitet mit verschiedenen Textsorten. Sie fügt unterschiedliche Erzählperspektiven, Tagebuch-Ausschnitte und Auszüge aus KGB-Akten unerbittlich zu einem Puzzle zusammen, und nach und nach wird dem Leser das Ausmass des Verhängnisses klar.
Adressaten
Dies ist kein Frauenroman, auch wenn zwei Frauen verschiedener Generationen sich begegnen und unsägliches Leid durch Männer erfahren haben. Abgründe des Grauens, des Verrats, Sadismus und Grausamkeit finden sich geschlechterunabhängig in vielen Herzen. Obwohl auch Aliide und Zara Hass und Verderben in sich tragen, sind sie doch fähig zur Läuterung und Umkehr. Oksanen ist mit Fegefeuer ein beeindruckender Wurf gelungen. Sie konfrontiert die Leser mit den beschämenden historischen Fakten zur Geschichte des estnischen Volkes, das jahrzehntelang unbeschreibliche Demütigungen erfuhr. Sie schreibt über Geschichte aus der Perspektive der Erleidenden, was den Leser berührt, beschämt und betroffen zurücklässt.
Cornelia Schmidli, Bibliothek Schwellbrunn
Gier, Kerstin. In Wahrheit wird viel mehr gelogen. - Bergisch Gladbach : Edition Lübbe, 2009.
(ISBN 978-3-7857-6014-7) Taschenbuchausg. 2011. (ISBN 978-3-404-16552-0) Auch als Hörbuch (978-3-7857-4185-6)
Die Welt ist voller Idioten
Carolin fühlt sich nach dem Tod ihres Mannes von Idioten umzingelt. Nicht verwunderlich. Denn mit sechsundzwanzig hat sie bereits zwei abgeschlossene Studien, spielt mehrere Instrumente und spricht fünf Sprachen – darunter Polnisch und Koreanisch. Einer dieser Idioten ist ihr spiessiger Ex – Freund mit dem sie sich um das nicht gerade kleine Erbe streiten muss. Und auch dessen geldgieriger Onkel will seinen Anteil daran haben. Kein Wunder, dass sich Carolin zum ersten Mal in ihrem Leben betrinkt und ein kleines Vermögen für Schuhe ausgibt. Unterstützung erhält Carolin von ihrer Schwester, die sie bei ihr wohnen lässt und sie zu einer Therapeutin schickt. Die für Carolin jedoch auch zu den Idioten zählt. Doch nicht nur ihre Schwester macht sich Sorgen. Auch ein hilfsbereiter Apotheker und ein ausgestopfter Foxterrier mit dem Namen „Nummer zweihundertdreiundvierzig“ stehen Carolin bei und helfen ihr bei einem Neuanfang.
Ein weiteres Meisterwerk
Kerstin Gier wurde 1966 geboren und studierte zunächst Germanistik, Musikwissenschaften und Anglistik, bevor sie zur Betriebspädagogik und Kommunikationspsychologie wechselte und als Diplompädagogin abschloss. Nach mehreren Jobs begann sie 1995 Frauenromane zu schreiben. Auch ihr neuestes Werk ist vor allem an Frauen gerichtet und lädt die Leser zum Lachen, Weinen und Nachdenken ein. Aber auch Männer sollten keinen Bogen um das Buch machen, da es ein weiterer Versuch ist, die Psyche einer Frau auf die etwas andere Art zu erklären.
Kerstin Gier wohnt mit ihrem Mann und Sohn in einem Dorf in der Nähe von Bergisch Gladbach. Ihr erstes Buch "Männer und andere Katastrophen" (1996) wurde mit Heike Makatsch in der Hauptrolle verfilmt und mit der dreibändigen Reihe über die Abenteuer von Gwendolyn und Gideon in London (Rubinrot, Saphirblau und Smaragdgrün) verfasste sie erstmals einen Jugend- und Fantasyroman.
Wie wahr
Obwohl die Geschichte eher flach und ereignislos erscheint, überzeugt die Protagonistin mit ihrer direkten Ehrlichkeit und selbstironischen Gedanken. Trotz der nicht einfachen Situation, kann man der Witwe Carolin oftmals zustimmen und sich mit ihr identifizieren. Die einzelnen Kapitel starten jeweils mit einem Zitat oder einer Lebensweisheit, die teilweise eine ganz andere Bedeutung annehmen. Zu jeder Situation findet die Autorin eine Weisheit, die nach kleinen Anpassungen im Kapitel bewahrheitet wird. Alltägliche Situationen werden aus einem anderen Blickwinkel erfasst, was die Leserinnen und Leser zum Nachdenken über ganz gewöhnliche Dinge anregt.
Das Buch mit den skurrilen Figuren, Dialogen zum Schmunzeln und viel Witz und Charme ist die beste Ablenkung für langweilige Regentage oder eine lange Zugfahrt.
Annina Schönenberger, Volksbibliothek Appenzell
Greggio, Simonetta. Mit nackten Händen : Roman ; aus dem Franz. von Patricia Klobusiczky. - München : Diana Verlag, 2010.
(ISBN 978-3-453-29099-0) Auch als Taschenbuch erhältlich
Emma, etwas über 40, hat mit ihrem früheren Ich abgeschlossen. Paris und ihre grosse Liebe Raphaël sind Vergangenheit. Enttäuschung, Demütigung und Kummer sind einer grossen Erleichterung gewichen. Nun lebt sie allein und unabhängig als gestandene Tierärztin auf dem Land. Ihre Leidenschaft und den Respekt für Tiere hat sie während ihrer Lehrzeit bei ihrem alten Meister und Freund d‘Aurevilly entdeckt. Ihre Arbeitstage sind lang, kein Weg ist zu weit, keine Zeit zu spät, wenn sie von den Bauern gerufen wird.
Ende der Ruhe
Dann kommt Gio und nichts mehr wird sein wie früher. Gio, knapp 15-jährig, gross und schlaksig, ist der Sohn Raphaëls und ihrer früheren Freundin Micol. Er ist von zu Hause ausgerissen. Sie hat ihn als Dreijährigen zum letzten Mal gesehen. Seine unerwartete Ankunft lässt vergessen Geglaubtes jäh und schmerzhaft wieder aufleben.
Gio begleitet Emma bei der Arbeit und hilft, wo er kann. Seine wilde Überzeugung und sein Ehrgeiz rühren Emma und sie erkennt, wie ähnlich sie sich in Vielem sind. Das Schicksal nimmt seinen Lauf. Aus Gios anfänglichen, ungelenken Verführungsversuchen entsteht fast zwangsläufig eine zarte und ernste Liebesbeziehung. Die Entdeckung löst einen wahren Strudel von Anfeindungen und Ereignissen aus. Doch Emma hat sich bewusst für Gio entschieden und alle Konsequenzen getragen.
„Du kannst nicht alles verstehen und nicht alles beherrschen.“
Mit diesem Zitat tröstet d’Aurevilly Emma. In diesem bemerkenswerten Liebesroman geht es ums Überschreiten der Grenze. Muss man oder kann man denn von Schuld sprechen? Die Autorin, Simonetta Greggio, platziert den „Sündenfall“ gleich an den Anfang und setzt Episoden und Erinnerungen wie ein Puzzle zusammen. Sie schreibt sorgsam und beschränkt sich aufs Wesentliche. Vieles offenbart sich dem Leser, der Leserin zwischen den Zeilen. Greggio fasziniert vor allem mit der Gabe, ein kleines Buch (nur 155 Seiten) mit viel Inhalt zu füllen. In frischer, glasklarer Sprache schreibt sie über den Lauf der Dinge, die Liebe zu den Menschen, den Tieren und der Natur.
Simonetta Greggio ist 1961 in Padua geboren und lebt seit mehr als 20 Jahren in Frankreich. Als Journalistin und Autorin hat sie diverse Reportagen, Porträts, Gastrokritiken und Reiseführer verfasst und sechs Romane geschrieben. „Mit nackten Händen“ hat in Frankreich die Bestsellerliste erstürmt. Vom Französischen ins Deutsche übersetzt hat Patricia Klobusiczky, die in Deutschland Dozentin, Übersetzerin, Lektorin, Kritikerin und Herausgeberin ist.
Elisabeth Siller, Bibliothek Herisau
Federico, Carla. Jenseits von Feuerland : Roman. - München : Knaur, 2011.
(ISBN 978-3-426-50440-6)
Zur Autorin
Carla Federico ist das Pseudonym von Julia Kröhn, die 1975 in Linz (Österreich) geboren wurde. Sie studierte Theologie, Philosophie und Geschichte in Salzburg und arbeitet nach mehrjährigen Tätigkeiten, wie an der Universität in Salzburg, seit 2006 als Autorin und Fernsehjournalistin in Deutschland. Ihre ersten literarischen Gehversuche machte sie schon mit vierzehn Jahren, und nebst dem Schreiben war und ist das Reisen ihre grösste Leidenschaft. So packte sie die Geschichte der deutschen Auswanderer im 19. Jahrhundert in Chile während einer Urlaubsreise. Daraus entstand eine erste Geschichte in Im Land der Feuerblume und 2011 nun Jenseits von Feuerland.
In beiden Romanen geht es um das Schicksal deutscher Auswanderer, deren harter Alltag und Existenzkampf in einem Land am Ende der Welt. Die chilenische Regierung liess damals systematisch erfahrene Bauern und Handwerker aus Deutschland anwerben und dies aus gutem Grunde: sie sollten das bis dahin weitgehend menschenleere südchilenische Seengebiet bevölkern und quasi einen Puffer zum „Mapuche-Land“ (Ureinwohner Chiles) schaffen - quasi ein „Klein Deutschland“ um den Slanquihue-See. Beide Lektüren sind eine Familiensaga, miteinander verknüpft, und doch können sie auch einzeln gelesen werden.
Zum Roman
Im neuen Bestseller Jenseits von Feuerland kämpfen zwei Frauen in Punta Arenas, der südlichsten Stadt der Welt, um ihre Zukunft und ihre Freiheit - und um die Liebe: Emilia, die Tochter deutscher Auswanderer, flieht von zu Hause, um einem dunklen Familiengeheimnis zu entkommen. Die zurückhaltende Rita dagegen hat nur einen Wunsch: sie will von den Chilenen als Weisse anerkannt werden, denn sie ist die Tochter einer Weissen und eines „Mapuche“ und wird als Mischling brutal verfolgt. Hier im sturmgepeitschten Patagonien entscheidet sich das Schicksal der beiden Frauen. Die Handlung ist chronologisch geschrieben, in vier Bücher unterteilt und beginnt dramatisch mit Ritas Flucht. Am helllichten Tag wird die Mission von Soldaten überfallen, wobei Ritas Grossmutter und der Vater umkommen. Rita überlebt als einzige und rennt nun um ihr Leben. Bei Emilia erhält sie Unterschlupf, aber kurze Zeit später zwingt ein schreckliches Familiengeheimnis auch Emilia zur Flucht aus ihrer deutschen Siedlung. Nach vielen Umwegen und einer folgenreichen Begegnung mit Esteban stranden sie als Köchinnen in Ernestas Bordell in Punta Arenas. Im zweiten und dritten Buch finden beide zwar die Liebe ihres Lebens; aber Arthur, der Apotheker aus Hamburg, verschwindet nach einem Missverständnis wieder für Jahre, und Ritas Jéromino entpuppt sich als Komplize von Esteban. Estebans Mutter hat den beiden Frauen und Ritas Tochter Aurelia ihre Estancia im Norden von Punta Arenas geschenkt. Dort lassen sie sich nieder und züchten Schafe, das sogenannte „weisse Gold“ in Chile. 1891 begegnet Emilia erneut Arthur, folgt ihm nach Hamburg und muss sich mit der Cholera und Arthurs Ehefrau auseinandersetzen. Im vierten und letzten Buch wird Aurelia entführt, und Emilia kommt schwanger aus Hamburg nach Hause zurück. Dass Emilia wie Rita am Ende aber als Siegerinnen hervorgehen, lässt der Name des ungeborenen Kindes erahnen: Viktoria.
Jenseits von Feuerland ist ein siebenhundertseitiger Roman, prall an Hoffnung, Liebe, Enttäuschung und Neid. Dies alles am Ende der Welt und hinter der überschaubaren Schilderung vom alltäglichen Leben auf einer patagonischen Estancia. Ebenso faszinierend ihre Beschreibung über die Kultur der Mapuche. Die Figuren sind authentisch und die Liebe von Emilia und Arthur geht ans Herz. Eine fabelhafte Familiensaga, Abenteuer- und Liebesroman. Man darf auf die Fortsetzung gespannt sein.
Carolin Kugler, Bibliothek Wolfhalden
Filser, Hubert. Das erste Mal : das erste Werkzeug, die erste Musik, das erste Bier, die ersten Künstler, das erste Haustier, die ersten Kleider. - Berlin : Ullstein, 2011.
(ISBN 978-3-550-08822-3)
Und Toumaï erhob sein Antlitz – Premieren in der Menschheitsgeschichte
‹Das erste Mal› ist eine Entdeckungsreise zu unseren Wurzeln, zu den grossen und kleinen Premieren der Menschheit, den grossen und kleinen Veränderungen, die uns zu dem gemacht haben, was wir heute sind. So beginnt Filsers Vorwort. Und weiter …‹Das erste Mal› ist auch ein Plädoyer, dem Zauber des Unerwarteten zu vertrauen, der uns von Anbeginn begleitet und unsere Entwicklung erst ausgemacht hat. Es hat uns immer gut getan, etwas Neues auszuprobieren.
‹Das erste Mal› ist ein Erzählband und doch keine Belletristik wie Barbara Woods Kristall der Träume (engl.: The blessing stone). Auch kein trockenes Sachbuch mit Fakten und Tabellen. Viel eher knüpft Filser an die populären Berichte von Ivar Lissner und C. W. Ceram (alias Kurt Wilhelm Marek) - erzählt informativ, spannend, kurzweilig. Und doch hat der Band das Zeug zum Sachbuch, denn Filser recherchiert sorgfältig, reist zu den Schauplätzen, begleitet Anthropologen und Archäologen an die Fundstellen, interviewt Wissenschafter und liefert eine ausführliche Bibliographie zu jedem Kapitel. Darüber hinaus garniert er Fakten mit einfühlsamen Schilderungen, lässt uns eintauchen in die Vorgeschichte, erzählt von Toumaï, vom Fischer aus Ishango oder von Ziquarro, dem Hirten.
Achtzehn erste Male breitet Filser vor uns aus: Der aufrechte Gang, das erste Werkzeug, der erste Migrant, das erste Feuer, das erste Wort, die ersten Mordwaffen, die ersten Künstler, die ersten Kleider, die erste Musik, das erste Haustier, die ersten Mathematiker, die ersten Tempel, die ersten Siedler, die ersten Beamten, die ersten blauen Augen, das erste Bier, die ersten sportlichen Grossereignisse, der erste Computer.
Die Spurensuche ist faszinierend. Wir machen mit Filser Ausflüge in die Djurab-Wüste, an den Hula-See, nach Derenburg, Kada Gona, Göbekli Tepe und Talheim. Er lässt uns teilhaben an den Diskussionen unter Experten, erklärt u.a. die ungeheure Auswirkung von gekochter Nahrung auf die Entwicklung des Menschen, macht uns mit der Biergöttin Ninkasi bekannt, sinniert über Faszination und Gefahr des Feuers …
Jedem Kapitel ist ein Lead vorangestellt, der neugierig macht. Mitten in den Mountains of the Moon, in der Demokratischen Republik Kongo am Rutansiger-See, dort, wo der Nil seinen Ursprung hat, finden wir einen kleinen Knochen mit einer Kristallspitze, auf dem Primzahlen eingeritzt sind. Danach folgt das Kapitel ‹Die ersten Mathematiker›. Alle Menschen mit blauen Augen gehen auf einen einzigen Vorfahren zurück, oder Vor 5000 Jahren ist im Süden Mesopotamiens, im heutigen Irak, die Bürokratie erfunden worden. Hier zeigt sich der Fachmann, denn Hubert Filser (*1966) war früher Wissenschaftsredakteur bei der Süddeutschen Zeitung.
Selbstverständlich lassen sich erste Male weder einfach datieren noch exakt belegen. Aber sie zeigen den heutigen Erkenntnisstand. Und dank Filser wird akribische Forscherarbeit unterhaltend und erlebbar. Wer wie ich früher Achermann-Romane verschlang und sich von den Geschichten der "Lasst hören aus alter Zeit"-Schriftenreihe verführen liess, für den ist Filsers Band ein Hochgenuss. Für manch anderen aber auch!
Doris Ueberschlag, Innerrhodische Kantonsbibliothek Appenzell
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