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MEDIENTIPPS

Unsere monatlichen Tipps aus den Lokalzeitungen zum Nachlesen

 

Cotterill, Colin. Der Tote im Eisfach : Dr. Siri ermittelt. Roman / Colin Cotterill ; aus dem Engl. von Thomas Mohr. – München : Manhattan, 2012.
(ISBN 978-3-442-54681-7)

„Wo in Afrika liegt Laos?“

Das wurde Colin Cotterill, Autor einer erfrischend anderen Krimi-Reihe offenbar des öfteren gefragt. Der Gegensatz zu den eher düsteren Krimis aus dem Norden Europas oder denjenigen aus Frankreich oder Italien, deren Kommissare so gerne gut essen, könnte nicht grösser sein.

Wo liegt jetzt schon wieder Laos genau? In Südostasien natürlich, eingerahmt von Vietnam im Osten, Kambodscha im Süden, Thailand im Westen. Im Norden teilt sich Laos die Grenze mit Myanmar und der südchinesischen Provinz Yunnan. Der Mekong bildet einen grossen Teil der Grenze zu Thailand und Myanmar.

Cotterills Geschichten spielen in den 1970er Jahren. Die laotische revolutionäre Volkspartei regiert den Einparteienstaat. Die Hauptfigur, Dr. Siri Paiboun, ist kein mittelalter Detektiv oder Kommissar, sondern ein 72jähriger ehemaliger Arzt, letzter Genosse mit medizinischem Hintergrund, der trotz fortgeschrittenem Alter von der Partei zwangsrekrutiert und zum einzigen Leichenbeschauer von ganz Laos ernannt wird. Seine Helfer dabei sind die pummelige Krankenschwester Dtui und Geung, ein junger, absolut perfektionistischer Mann mit Down-Syndrom. Ohne jedes Fachwissen und mit der Unterstützung dieser beiden ebenso unqualifizierten Assistenten untersucht Paiboun seine Todesfälle. Auch auf die Hilfe seines alten Freundes, Parteigenossen und Mitglied des Politbüros, Civilai kann er jederzeit zählen. Weiter stehen ihm zwei französische Lehrbücher aus dem Jahre 1948 zur Verfügung.

Ein exotisches Land, rätselhafte Todesfälle und Kommunismus, der kommunistischer nicht sein könnte, Übernatürliches, viel Sinn für Humor und Ironie, trotz Gewalttaten und Grausamkeiten. Diese Elemente führen durch bisher fünf auf Deutsch erschienene Werke und unterhalten aufs Beste. Das nächste Buch erscheint im Juni 2013. Nebst guter Unterhaltung scheint aber genauso wichtig: mit Colin Cotterills Büchern bekommt Laos ein Gesicht und eine Geschichte und tritt aus dem Schatten der viel öfter in den Medien präsenten Länder wie Vietnam, Kambodscha und Thailand heraus. Seit den 1990er Jahren werden politische Reformen in Angriff genommen und der Tourismus ist mittlerweile einer der aufstrebenden Wirtschaftszweige und Devisenbringer dieses Landes.

Simone Gründler, Gemeindebibliothek Heiden

Von Colin Cotterill bereits auf Deutsch erschienen:
Dr. Siri und seine Toten (2008), Dr. Siri sieht Gespenster (2009), Totentanz für Dr. Siri (2010), Briefe an einen Blinden (2011). Im Juni 2013 erscheint: Der fröhliche Frauenhasser.

Venditti, Robert; Huddlestone, Mike. The Homeland Directive. - Hamburg : Carlsen Verlag, 2013.
(ISBN 978-3-551-72968-2)
Davodeau, Etienne. Lulu - die nackte Frau. - Bielefeld : Splitter Verlag, 2012.
(ISBN 978-3-86869-560-1)

Graphic Novels – (aus)gezeichnete Romane

Graphic Novels sind Comics, die sich aufgrund ihres thematischen Anspruches und ihrer erzählerischen Komplexität vom herkömmlichen Comic unterscheiden und sich dadurch nicht mehr nur an Kinder und Jugendliche, sondern an erwachsene Leser richten.

Wie verschieden mit Inhalt und zeichnerischer Umsetzung umgegangen werden kann, zeigen die folgenden zwei Bücher hervorragend. Beide Exemplare gehören zum Bestand von rund 80 Graphic Novels der Bibliothek Teufen.

 

The Homeland Directive

"Wer bereit ist, grundlegende Freiheiten aufzugeben, um kurzfristig Sicherheit zu erlangen, verdient weder Freiheit noch Sicherheit." Diese Aussage von Benjamin Franklin steht zu Beginn des Politthrillers von Robert Venditti, in dem er die Frage nach dem Zusammenhang von Sicherheit und Freiheit stellt.

In diversen Städten der USA sterben Menschen, die mit einem gefährlichen Bakterium infiziert wurden. Gleichzeitig wird eine bekannte Mikrobiologin entführt. Als ihr Kollege darauf ermordet aufgefunden wird, gerät die junge Frau in ein Labyrinth aus Verrat und Intrigen. Zum Glück stellen sich ihre Entführer als FBI-Agenten heraus, die an eine grosse Verschwörung glauben. Ein unbarmherziger Wettlauf um Leben und Tod beginnt.

Dass der Leser in den verschiedenen Handlungsebenen und den vielen Figuren nicht den Überblick verliert, sorgt der Zeichner Mike Huddleston, der sich für jeden Schauplatz eine eigene Gestaltung ausgedacht hat. Mit dezenten Bleistiftzeichnungen, schwarz-weissen, aquarellfarbig und knallig kolorierten Figuren und Darstellungen gelingt es ihm hervorragend, den äusserst spannenden Thriller bildhaft zu unterstützen.

 

Lulu – die nackte Frau

In der wundervollen Geschichte greifen zwei Ebenen perfekt ineinander. Bei der ersten handelt es sich um Lulu. Vierzig Jahre alt, verlässt sie Mann und Kinder, um aus ihrem tristen Alltag auszubrechen, einfach um ein paar Tage allein zu sein. Nur eine kurze Unterbrechung in der Eintönigkeit der leeren Tage, denkt sie – und überrascht sich damit selbst. Lulu geniesst die Freiheit! Zurück bleiben ihre Familie und Freunde, die die ganzen Geschehnisse aus ihrer Perspektive in der zweiten Ebene erzählen. Durch sie erfährt man mehr über das Leben von Lulu, Unverständnis für ihr Handeln, aber auch viel Respekt vor dem Mut, sowohl eine gewisse Feindlichkeit als auch Wohlwollen und Sympathien ihr gegenüber kommen auf.

Mit seinem Werk hat Etienne Davodeau eine ruhige und nachdenkliche Geschichte mit eindringlichen Figuren geschaffen. Seine Zeichnungen sind natürlich und schlicht, kommen teils ohne Worte aus und sind auf allen 160 Seiten in orangen und hellen Blautönen gehalten. Dem Autor und Illustrator ist ein Meisterwerk der leisen Art gelungen.

 

Wort und Bild

Beiden Graphic Novels sind die ausdrucksstarken Gesichter der Figuren und die spannungsreiche Handlung gemeinsam. So unterschiedlich ihre Geschichten auch sind, gelingt es einem kaum, die Bücher wegzulegen, bevor man sie fertig gelesen hat. Und zurück bleibt nicht nur jede auf ihre Art bewegende Geschichte, sondern auch viele eindrucksvolle, farbige Bilder, die noch lange im Gedächtnis haften bleiben. Wahrscheinlich eine positive Eigenschaft von Graphic Novels, dass mehrere Hirnregionen aktiviert werden und Bild und Wort zu einem wunderschönen Ganzen verschmelzen, das noch lange nach dem Lesen wirkt!

 

Karin Sutter, Bibliothek Teufen

Fitzgerald, Francis Scott. Der grosse Gatsby. - Zürich : Diogenes, 2012.
(ISBN: 978-3-257-26103-5)
Der great Gatsby [Filmmaterial 1974] / dir. by Jack Clayton. - Unterföhring : Paramount Home Entertainment, 2009.
Der great Gatsby [Filmmaterial 2013] / dir. by Baz Luhmann. - Hamburg : Warner Home Video, 2013.

Der grosse Gatsby – der Buchklassiker als Verfilmung

Teil 1: Das Buch
Der Klassiker aus dem Jahre 1925 wurde zum fünften Mal verfilmt; Grund genug, dieses Buch wieder einmal zu lesen. Die Hauptthemen, um welche Scott Fitzgerald seine Geschichte konstruierte, sind die zeitlose Gier nach Geld, das egoistische Treiben der Schönen & Reichen auf Kosten der Unterschicht und, im Zentrum des Geschehens, eine grosse Liebe.
New York, 1922. Auf seinem Anwesen hat sich der schwerreiche und undurchschaubare Gatsby verschanzt und gibt dort regelmässig rauschende Partys. Hinter diesem inszenierten Jahrmarkt der Eitelkeiten jedoch versteckt sich nichts Anderes, als die ersehnte Rückeroberung von Gatsbys verlorener Jugendliebe: Durch seinen Reichtum hofft er, die mittlerweile unglücklich verheiratete Daisy wieder für sich zu gewinnen. Als die alte Leidenschaft zwischen den Beiden erneut aufflammt, geschieht ein Unfall, der alle Beteiligten ihre wahren Gesichter zeigen lässt.
Der kürzeste und zugleich erfolgreichste Roman von Scott Fitzgerald beginnt gemächlich und gewinnt mit jedem Kapitel, gleich einer startenden Dampflok der „Roaring Twenties“, mehr an Tempo und Dramatik. Meisterhaft schildert er den materiellen Überfluss und den emotionellen Überdruss der Reichen, die für ihre übersättigten Vergnügungen wenn nötig auch über Leichen gehen. Und mittendrin steht einsam Gatsby, der unverdrossen an die wahre Liebe glaubt.
Der ganze Roman ist letztendlich eine gelungene Gesellschaftskritik, die im März dieses Jahres im Zusammenhang mit der „Abzocker-Initiative“ einmal mehr äusserst aktuell wurde. Die literarische Spitze am Ende des Buches könnte deshalb auch an alle Manager mit exorbitanten Gehältern gerichtet sein: „Sie waren leichtfertige Menschen, sie zerstörten Dinge und Lebewesen, und dann zogen sie sich wieder in ihr Geld oder ihre grenzenlose Leichtfertigkeit zurück oder was immer es war, das sie zusammenhielt, und liessen andere das Chaos beseitigen, das sie angerichtet hatten...“

Teil 2: Die Filme
Endlos-Parties jedes Wochenende, Alkohol in Strömen, Mode, Glitzer, Glamour, Musik, die kein persönliches Gespräch zulässt... Nein, keine Beschreibung aus der Gegenwart, sondern ein Gesamteindruck aus der letzten Verfilmung des ‹Grossen Gatsby› mit Leonardo di Caprio und Carey Mulligan in den Hauptrollen. Im Gegensatz zum Film von 1974 mit Robert Redford und Mia Farrow, der abgesehen vom schockierenden Ende mehr ruhig und erzählend dahinfliesst, werden Zuschauerinnen und Zuschauer hier schnell ein Teil der Szenerie. Ein Strudel an Tönen, schrillen Farben, künstlich wirkenden Szenenausstattungen, rasanten Autofahrten, atem- und sinnlosen Dialogen und dazu der 3D-Effekt lassen keine Pause und kein Nachdenken zu. So ist der Absturz in die unausweichliche Katastrophe umso frappanter und tragischer und lässt einen betroffen zurück, selbst wenn man die Geschichte bereits kennt. Eine zeitlose Kritik an überbordendem Luxus, Geldgier und Oberflächlichkeit der Gesellschaft, in der wirkliche Liebe keinen Platz hat, da sie nicht käuflich ist.

Gerold Ebneter & Iris Schläpfer, Mediathek der Kantonschule Trogen

Liebe mich : 17 Liebesgeschichten aus der Schweiz. - Chiasso: Edizioni Abendstern, 2012.
(ISBN 978-88-907709-4-4)

Ist die Liebe sich selbst genug?

Nein, man muss sie auch erzählen. Eine muss erzählen dürfen, was Liebe in ihrem Leben so alles anrichtet, und einer muss das lesen wollen. Beste Zeitgenossen vermögen beides: sie geben und sie nehmen Liebe – und sie dichten davon oder erzählen sie. Pedro Lenz und Charles Lewinsky, Eveline Hasler und Theres Roth-Hunkeler – neben einem weiteren guten Dutzend Schweizer Schriftsteller – erzählen vom Liebesgeschehen. Siebzehnmal. Peter Rüedi hat den Band vorgewortet. Und hat Grund, darauf hinzuzeigen, dass in dieser Sammlung eben gerade kein Rösti- und kein Polentagraben gezogen seien.

Vom Geschehen zur Geschichte
Wollte jemand, der ausgiebig liest, allen Ernstes behaupten, an Liebesgeschichten herrsche Mangel? Kaum zu glauben. Mangel an Liebeslyrik? Ausgeschlossen. Kann man nicht stets neu den anrührenden Erzählungen begegnen etwa von Johann Peter Hebel, von Böll oder Siegfried Lenz, von Ramuz oder dem Walliser Maurice Chappaz, von Hohler oder dem Welttheaterautor Tim Krohn, von Wolf Wondratschek oder, keine zehn Jahre her, von Ulrike Draesner („Hot Dogs“, München 2004)? Auch im Multipack, also zu siebt oder zu sechst, sind Liebesgeschichten angeboten: klassische von vor dreissig Jahren bei Reclam (Behrens, Herburger, Kaschnitz unter ihnen); rezente und wenn der Erzählbericht unbedingt Mann plus Mann zusammenbringen musste, von Martin Frank (Zürich 1999). Sammlungen mit Liebeslyrik durften unterm Bekenntnistitel „Bin dein liebestropfes Tier“ erscheinen oder überschrieben sein mit dem Geständnis „Aber besoffen bin ich von dir“. Unlängst sind Erich Renners „Liebesleute“ ausgeliefert worden (Wuppertal: Hammer), dieses Jahr haben Polt-Heinzl/Schmidjell „Liebesgedichte aus aller Welt“ herausgegeben (Stuttgart: Reclam). Und zwischen all dem sind – in einem vielsagend randständigen Verlag – die „17 Liebesgeschichten aus der Schweiz“ ans Licht gekommen: bei den Edizioni Abendstern in Chiasso.

Küsse / Tränen / Flüche / Trauer
Im Vorwort schreibt Rüedi gegen die Auffassung an, Liebesgeschichten seien Geschichten über die Liebe. Tatsächlich, wer nachsinnt, wer an Einschlägiges sich erinnert, dem fällt ein, wie viele Male auf Kuss und Umarmung Tränen folgen, Flüche lautwerden, Enttäuschung überwunden und Trauer verarbeitet wird in Texten, die programmatisch davon berichten, „was die Liebe anrichtet“ (Rüedi). Da wir im hier anzuzeigenden Band manche neue, aber Maurice Chappaz’ überhaupt „schönste Liebesgeschichte“ nicht wiederfinden – dafür Erzählungen von Thomas Hürlimann, von Merz, Stamm, M. R. Dean –, mag Chappaz’ zwei Seiten kurze Erzählung als Paradigma dienen. Für Kuss und Glück, für Verlust und Depression. In einem Dorf eine junge Frau. Rubens-Formen. Zwei Brüder umwerben sie, der ältere bekommt – ich sollte sagen: heiratet sie. Zweiter Weltkrieg, das Wallis gehört zur verschonten Insel, aber wer beim Schmuggeln ennet der schweizerisch-italienischen Grenze erwischt wird, verschwindet. Im Dorf muss man den Gatten unserer Schönen für gefallen halten – jetzt ist der jüngere Bruder am Zug. Weniger laute Heirat. Irgend leiseres Glück. Dann kehrt der Ältere aus Russland heim. Einer der beiden Männer, folgern wir, sei jetzt zu viel. Aber nichts wird pikant – an einem Kummerschlag stirbt der Heimkehrer, und aus einer verzweifelten Mischung aus Scham, Schuldempfindung, Eifersucht hängt sich der Jüngere auf. Der Sarg mit dem Älteren wird in der Kirche abgedankt, der andere Sarg mit dem „Selbstmörder“ muss vor der Kirchtür warten. Begraben, immerhin, werden die Brüder nebeneinander. Die Witwe geht ins Kloster. Kostbar an der Sammlung, für welche hier geworben wird, ist – trotz der Grenzziehung Schweiz und der Beschränkung auf 17 Texte – der mehrseits offene Horizont: welsche Erzähler, ein Tessiner und ein Unterengadiner Autor kommen zu Wort. Andreas Münzner hat Jacques-Étienne Bovard, Sylviane Chatelain und Daniel de Roulet übertragen, Alex Capus hat Anne Cuneo übersetzt. Giovanni Orellis Geschichte ist, wie mancher Geschwistertext, erstmals veröffentlicht. Der titelstiftende Appell lautet: „Liebe mich“.

Rainer Stöckli, Gemeindebibliothek Reute

Sister – l’enfant d’en haut / Regie: Ursula Meier ; Produktion Frankreich/Schweiz 2012. - Zürich : filmcoopi.

Sister – ein etwas anderer Blick in die Berge

„Sister“ ist ein metaphernreicher, poetischer Schweizer Film der Regisseurin Ursula Meier, der an den Filmfestspielen von Berlin 2012 den Silbernen Bären gewann. Die Westschweizerin Ursula Meier ist eine begnadete Filmemacherin, die sich an ungewohnte Themen wagt und diese in eigenwilliger Weise an den Zuschauer bringt.
Die Idee zum Film basiert auf einer Erinnerung aus der Kindheit der Regisseurin. Sie ist in der Nähe eines Skigebiets aufgewachsen und wurde damals gewarnt vor einem Jungen, der Touristen beklaute, der wie ein Verrückter über die Pisten fuhr und gar nicht wirklich gut skifahren konnte. Er hatte Hausverbot in den Restaurants. Das Bild dieses kleinen Diebes hat sie nicht mehr losgelassen.

Und so erzählt Ursula Meier die berührende Geschichte von einem Knaben namens Simon, der mit seiner Schwester unten im Tal in einem tristen Wohnblock lebt und so oft als möglich mit der Seilbahn hinauf in einen noblen Winterkurort fährt. Dort klaut er Skier, Brillen, Helme und Handschuhe von betuchten Touristen. Weder er noch die Kamera haben einen Blick für die Schönheit des Winterpanoramas. Simon geht es allein darum, diejenigen Marken zu finden, für die er später im Tal das meiste Geld bekommen wird.

So dreist und verwerflich Simons Beutezüge sind, so herzzerreissend ist zu spüren, dass hinter seinem kriminellen Tun einzig und allein das grosse Bedürfnis nach Nähe steht, nach Anerkennung oder sogar etwas Liebe von seiner älteren, arbeitslosen Schwester (oder ist es die Mutter?), die zwielichtigen Typen folgt. Er sorgt verzweifelt für sie, um sie ja nicht zu verlieren. Die beiden leben am Rande der Gesellschaft, sich vollständig selbst überlassen. Weggelassen werden Behörden, Polizei, Sozialarbeiter und Schule – ein Märchen?

Dass uns die Geschichte von Simon und Louise so nahe geht, liegt nicht nur an den beiden wunderbaren Schauspielern, dem 13-jährigen Kacey Mottet Klein und Léa Seydoux. Es ist auch die Feinfühligkeit der Inszenierung, es sind die kleinen Gesten, die Stille, all die Momente, in denen unser Herz vor lauter Anspannung stehen zu bleiben scheint.

Ursi Lendenmann, BiblioGais

Feric, Zoran. Das Alter kam am 23. Mai gegen 11 Uhr : Roman ; aus dem Kroatischen von Klaus Detlef Olof. - Wien : Folio Verlag, 2012. (TransferBibliothek.)
(ISBN 978-3-85256-609-2.) Auch als eBook erhältlich.

Zoran Feric, 1961 in Zagreb geboren, ist Gymnasiallehrer für kroatisch und hat schon etliche Bücher geschrieben, die in viele Sprachen übersetzt wurden.
Sein neuestes Werk wurde in Kroatien mit mehreren literarischen Preisen ausgezeichnet und handelt von einer Abiturientenklasse, die nach dem 2. Weltkrieg in Zagreb aufwächst. Im Tito-Jugoslawien geniessen diese Jugendlichen alle Freiheiten, sie gehören zu den Privilegierten ihrer Generation. Der Krieg, der ihre Eltern geprägt hat, ist für sie nur noch in den Erzählungen präsent, ihnen stehen alle Möglichkeiten offen. Was sie daraus machen, hat Zoran Feric mit beissendem Humor, grosser Erzählkunst und durchaus auch anrührenden Episoden dargestellt.

Zweite Reise
Die mittlerweile 70-jährigen treffen sich noch einmal auf der Tramuntana, dem gleichen Schiff wie einst auf der Abiturientenreise, um ein zweites Mal der dalmatinischen Küste entlang zu segeln. Schiff und Passagiere sind in die Jahre gekommen, alte Erinnerungen werden wach, alte Rivalitäten brechen wieder auf. Auch eine über 90-jährige Lehrerin setzt sich den Strapazen der Reise aus, was allerdings niemand weiss, es ist ihre letzte Reise. Sie wird unterwegs von Bord gehen und in ein Altersheim eintreten. Ihre ehemaligen Schüler können es nicht lassen, in der grossen Kiste zu stöbern, die sie mit an Bord genommen hat. Betroffen müssen sie erkennen, dass darin sozusagen das ganze Leben der alten Dame verstaut ist, alles was ihr noch geblieben ist, hat sie mitgenommen. Porzellan. Porträts, Bücher, Dinge, die sie bis zum Ende um sich haben möchte. Nun liegt sie in ihrer Kabine und denkt über die Menschen nach, die sie erzogen hat. Die zu erziehen ihr aber offenbar nicht gelungen ist. Tihomir Romar ist die Hauptfigur in diesem Roman und wie ein roter Faden zieht sich seine verhängnisvolle Liebesgeschichte durch das ganze Buch. Schon während der Schulzeit lernt er Senka kennen. Die ehemalige Mitschülerin taucht immer wieder in den Rückblenden auf, sie bestimmt das ganze Leben des Tihomir, eines angesehenen Gynäkologen in Zagreb. Senka ist zwar verheiratet, hat eine Tochter und wohnt eigentlich in der Schweiz, aber um ihre Mutter zu pflegen, weilt sie einige Zeit in Zagreb, wo die beiden ihre erste Liebesbeziehung anfangen. Diese Beziehung ist ein einziges auf und ab beiderseits, Trennungen, wieder zueinander finden, das halbe Leben lang. Eine Liebe, die ständig wieder in Frage gestellt wird und zu einer Obsession wird, aus der beide kaum wieder herausfinden. Schliesslich kommt es zum vorerst endgültigen Bruch und Tihomir heiratet eine andere Frau. Dreissig Jahre später sitzt Tihomir in Zagreb in einem Cafè, fühlt sich von einem Kellner schlecht behandelt, und plötzlich wird ihm bewusst, dass er nun zu den „Alten“ gehört. Ganz treffend beschreibt Zoran Feric diese Gedanken: Das bedeutete, von nun an, in Hinkunft, ich bin alt. Viel älter, als ich noch gestern war oder heute Morgen. Wer hätte gedacht, dass das Alter an einem einzigen Tag kommt, dass es von einem frechen Kellner serviert wird wie ein schaler Kaffee“. Auf dem Schiff schliesst sich dann schliesslich der Kreis, Tihomir und Senka finden nach einer turbulenten Fahrt wieder zueinander, ein wenig altersmilde geworden, und auch die anderen der bunten Gesellschaft haben das Experiment, für einen Augenblick die Jugend zurück zu holen, einigermassen unbeschadet überstanden.

Trudi Bänziger, Bibliothek Rehetobel

 

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