Funkenschlagend und spannend bis zum finalen Kurzschluss!

Wa­ckel­kon­takt : Ro­man / Wolf Haas. – Mün­chen : Carl Han­ser Ver­lag, 2025. (978–3‑446–28272‑8)

Es gibt nichts Neu­es un­ter der Son­ne? Wolf Haas be­weist das Ge­gen­teil

«Es gibt nichts Neu­es un­ter der Son­ne» heisst es – eine re­si­gnier­te Er­kennt­nis, die auch für die Li­te­ra­tur zu gel­ten scheint. Schon Wil­liam Shake­speare liess sich für sein be­rühm­tes Dra­ma «Ro­meo und Ju­lia» von der an­ti­ken Sage um «Py­ra­mus und This­be» in­spi­rie­ren. Ideen wan­dern, Stof­fe wer­den re­cy­celt, und manch­mal ent­steht aus Alt­be­kann­tem et­was Neu­es. Doch tat­säch­lich et­was wirk­lich Ori­gi­nel­les zu schaf­fen, eine Ge­schich­te, die über­rascht und die Le­se­rin oder den Le­ser aus ver­trau­ten Bah­nen reisst, ist ein äus­serst sel­te­nes Kunst­stück. Aber ge­nau das ist Wolf Haas mit sei­nem neu­en Ro­man «Wa­ckel­kon­takt» ge­lun­gen. Haas, be­kannt für sei­ne fei­ne Be­ob­ach­tungs­ga­be, sei­nen sub­ti­len Hu­mor und sei­ne sprach­li­che Raf­fi­nes­se, be­weist ein­mal mehr, dass er nicht nur ein Meis­ter des Kri­mi­nal­ro­mans ist, son­dern auch ein Er­zäh­ler mit ei­nem un­ver­kenn­ba­ren Ge­spür für die Ab­sur­di­tä­ten des mo­der­nen Le­bens.

Zwi­schen Steck­do­se und Schick­sal – eine ver­blüf­fen­de Dop­pel­spi­ra­le

Im Zen­trum von Haas’ neu­em Ro­man steht Franz Escher, der auf ei­nen Elek­tri­ker war­tet, um ei­nen Wa­ckel­kon­takt in sei­ner Steck­do­se zu re­pa­rie­ren. Um die Zeit tot­zu­schla­gen, ver­tieft er sich in die Lek­tü­re ei­nes Bu­ches, das vom Ma­fia-Kron­zeu­gen Elio Rus­so er­zählt. Elio, der im Ge­fäng­nis auf sei­ne Ent­las­sung war­tet, lebt in stän­di­ger Angst um sein Le­ben – schliess­lich hat er sich mit sei­nen Aus­sa­gen vie­le Fein­de ge­schaf­fen. Er ver­bringt schlaf­lo­se Näch­te, in de­nen er eben­falls liest. Sein Buch? Es han­delt von Franz Escher, der auf den Elek­tri­ker war­tet. Was zu­nächst wie zwei lose ver­knüpf­te Le­bens­ge­schich­ten an­mu­tet, ent­wi­ckelt sich rasch zu ei­ner fes­seln­den Hand­lung mit et­li­chen Wen­dun­gen und en­det schliess­lich in ei­nem un­er­war­te­ten Fi­na­le.

Ein li­te­ra­ri­sches Per­pe­tu­um Mo­bil

Haas ge­lingt in «Wa­ckel­kon­takt» ein über­ra­schen­der li­te­ra­ri­scher Kunst­griff, der die Gren­zen zwi­schen Rea­li­tät und Fik­ti­on, Le­ser und Prot­ago­nist, na­he­zu auf­löst. Die bei­den Haupt­fi­gu­ren, Franz Escher und Elio Rus­so, sind auf eine Wei­se mit­ein­an­der ver­bun­den, die an das be­rühm­te Bild von M.C. Escher er­in­nert: Zwei Hän­de, die sich ge­gen­sei­tig zeich­nen, un­trenn­bar ver­wo­ben in ei­nem end­lo­sen Kreis­lauf. Ge­nau so er­schafft Haas eine Ge­schich­te, in der sich die Le­bens­li­ni­en der bei­den Män­ner wie ein Spie­gel­ka­bi­nett in­ein­an­der ver­schrän­ken. Je­der liest vom Le­ben des an­de­ren, be­ein­flusst es viel­leicht so­gar, ohne dass klar ist, wo die eine Ge­schich­te en­det und die an­de­re be­ginnt. Die­ser er­zäh­le­ri­sche Ta­schen­spie­ler­trick er­zeugt nicht nur Stau­nen, son­dern for­dert die Le­se­rin oder den Le­ser dazu her­aus, die ei­ge­ne Wahr­neh­mung zu hin­ter­fra­gen. Haas zeigt mit «Wa­ckel­kon­takt» ein­mal mehr, dass li­te­ra­ri­sche In­no­va­ti­on mög­lich ist – und dass die Fas­zi­na­ti­on des Spiels mit Per­spek­ti­ven, Ver­knüp­fun­gen und schein­ba­ren Pa­ra­do­xien zeit­los bleibt. Ein Ro­man mit Sog­wir­kung, der wie ein Strom­stoss durch den Kopf geht und da­bei aber an­ge­nehm nach­wirkt.

Ge­rold Eb­ne­ter, Me­dia­thek der Kan­tons­schu­le Tro­gen