Eine Reise durch die Tiefen menschlicher Abgründe

Klei­ne Mons­ter : Ro­man / Jes­si­ca Lind. – Ber­lin : Han­ser Ber­lin in Carl Han­ser Ver­lag, 2024. (978–3‑446–28144‑8)

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Pia und Ja­kob sit­zen im Klas­sen­zim­mer der Leh­re­rin ih­res 7‑jährigen Soh­nes ge­gen­über. Der An­lass ist schwer­wie­gend: Es soll ei­nen Vor­fall mit ei­nem gleich­alt­ri­gen Mäd­chen ge­ge­ben ha­ben. Der Va­ter ist ent­setzt, denn Luca ist ein sen­si­bler klu­ger Jun­ge. Dar­an hegt er kei­nen Zwei­fel, wäh­rend Pia die Ab­grün­de, die in Kin­dern lau­ern, zu ken­nen glaubt.

Rück­schau

Die Ich-Er­zäh­le­rin wird durch den Vor­fall in der Schu­le in die ei­ge­ne Kind­heit zu­rück­ka­ta­pul­tiert und mit ih­rer Ver­gan­gen­heit kon­fron­tiert. Es mu­tet ei­gen­ar­tig an, dass Pia in Be­zug auf den klei­nen Luca so arg­wöh­nisch ist. Sie hegt den Ver­dacht, dass et­was Dunk­les in der See­le ih­res klei­nen Soh­nes lau­ert, und ver­däch­tigt ihn nach dem Zwi­schen­fall so­gar, das Bett­näs­sen vor­zu­täu­schen, um Mit­ge­fühl zu hei­schen.

Miss­trau­en

Pia be­ginnt, ihr Kind ge­nau­er zu be­ob­ach­ten, und ver­meint, böse Nei­gun­gen in ihm zu ent­de­cken. Wes­halb will Luca nichts über den Vor­fall sa­gen und schweigt viel­sa­gend trotz al­ler Ver­su­che der El­tern, ihn zum Re­den zu brin­gen? Wes­halb tö­tet er die Blind­schlei­che kalt­blü­tig und zeigt kei­ner­lei schlech­tes Ge­wis­sen?

So viel müt­ter­li­cher Arg­wohn er­scheint un­ge­wöhn­lich. Über­haupt wird beim Le­sen zu­neh­mend klar, dass es in ers­ter Li­nie um Pia und nicht um Luca und sei­ne «un­aus­ge­spro­che­ne dunk­le Tat» geht. Pia wuchs mit zwei Schwes­tern auf, von de­nen die mitt­le­re ad­op­tiert wur­de. Die jüngs­te kam bei ei­nem tra­gi­schen Ba­de­un­fall ums Le­ben. Die­ser Ver­lust zer­stör­te die ver­meint­li­che Fa­mi­li­en­idyl­le. Es gab nur eine Zeu­gin des Un­glücks: Romi, die Stief­schwes­ter Pias, die mit der Fa­mi­lie ge­bro­chen hat, und heu­te eine er­folg­rei­che In­fluen­ce­rin ist. Mehr als zwan­zig Jah­re nach dem Un­fall ver­sucht Pia zu ver­ste­hen, was ge­nau da­mals ge­schah. War Romi ei­fer­süch­tig auf die klei­ne Lin­da und liess sie kalt­blü­tig er­trin­ken? Hat die Mut­ter Romi nach dem Un­fall ihre Lie­be ent­zo­gen und sie sub­til miss­han­delt?

Bei so viel un­be­wäl­tig­ter Trau­er aus der Ver­gan­gen­heit wird ei­nem für das Kind, des­sen «Un­tat» man al­len­falls ver­mu­ten kann, angst und ban­ge.

Fa­mi­lie als Dreh- und An­gel­punkt

Letzt­lich er­weist sich der Ro­man­ti­tel als Ir­re­füh­rung. Wer eine Er­zäh­lung über das Böse im Kind er­war­tet, liegt falsch. «Klei­ne Mons­ter» ist ein Ro­man über die heu­ti­ge Klein­fa­mi­lie, in de­ren Fo­kus der Nach­wuchs steht, bei dem die El­tern al­les per­fekt ma­chen wol­len, und viel­leicht auch die ei­ge­nen Un­zu­läng­lich­kei­ten und Ab­grün­de ins Kind pro­ji­zie­ren. Die Ge­schich­te han­delt aber auch vom Mut­ter­sein, das nicht so selbst­ver­ständ­lich ist, wie ge­mein­hin pos­tu­liert, und um die Be­zie­hung zwi­schen den El­tern, die sich manch­mal als Ri­va­len ge­gen­über­ste­hen.

Nichts­des­to­trotz zeigt der Ro­man in span­nen­der Art und Wei­se, wie ei­nem das ei­ge­ne Kind fremd sein kann und wie Din­ge, die auf den ers­ten Blick als ge­wiss er­schei­nen, sich am Ende ganz an­ders of­fen­ba­ren.

Eine fes­seln­de psy­cho­lo­gi­sche Er­zäh­lung über die Il­lu­si­on ei­ner un­ge­trüb­ten Kind­heit.

Cor­ne­lia Schmid­li, Bi­blio­thek Schwell­brunn