Im Krieg und in der Kunst ist alles erlaubt

Licht­spiel : Ro­man / Da­ni­el Kehl­mann.
– Ham­burg : Ro­wohlt, 2023.
(978–3‑498–00387‑6)

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Man stel­le sich fol­gen­des Dreh­buch für ei­nen Film vor: Ein Lu­xus­schiff auf ho­her See er­fährt plötz­lich durch ei­nen Funk­spruch, dass Krieg er­klärt wur­de. Un­ter den Pas­sa­gie­ren, die zu­vor noch mus­ter­haft für die ge­ho­be­ne Ge­sell­schaft der 1930er Jah­re stan­den, ma­chen sich Angst, Wut und Miss­trau­en breit. Es wird ge­strit­ten und ge­kämpft, Blut wird ver­gos­sen, bald geht es ums blan­ke Über­le­ben. Doch dann kommt ein zwei­ter Funk­spruch: Es war ein Irr­tum. Der Krieg ist gar nicht aus­ge­bro­chen, es bleibt al­les beim Al­ten. Die Pas­sa­gie­re se­hen sich ent­setzt an, be­vor der Film kli­schee­haft zum Hap­py End über­geht. Das Ende der Ge­schich­te ist so un­glaub­wür­dig, dass es ei­ni­ge Zu­schaue­rin­nen oder Zu­schau­er zum Schmun­zeln brin­gen wird. Ge­nau die­se Un­glaub­wür­dig­keit je­doch ent­hüllt die so­zi­al­kri­ti­sche Mo­ral des Films. Er bie­tet ei­nen er­schre­ckend rea­lis­ti­schen Ein­blick in die Heu­che­lei der mo­der­nen Ge­sell­schaft nach dem Krieg. Gross­ar­tig!

Die­sen Film will der ös­ter­rei­chi­sche Re­gis­seur G. W. Pa­bst in Hol­ly­wood dre­hen. Nach der Macht­er­grei­fung durch die Na­tio­nal­so­zia­lis­ten in Deutsch­land hat­te er es mit sei­ner Frau Tru­de und sei­nem Sohn Ja­kob ge­schafft, in die Ver­ei­nig­ten Staa­ten zu flie­hen, wo er sich po­li­ti­sche und künst­le­ri­sche Frei­heit er­hoff­te. Al­ler­dings passt sei­ne künst­le­ri­sche Vi­si­on nicht zu Hol­ly­wood, und so kommt es, dass er zu­rück nach Eu­ro­pa und nach Frank­reich reist, wo er sich mehr Re­gie­ar­beit er­hofft. Aber auch dort muss er ler­nen, dass sei­ne Kunst nicht mehr so ge­fragt ist wie zur Zeit des Stumm­films. Not­ge­drun­gen reist er in sei­ne alte Hei­mat, die seit 1938 Ost­mark heisst. Doch be­vor er wie­der ab­rei­sen kann, kommt eine Nach­richt im Ra­dio: Krieg wur­de er­klärt. Die Gren­zen sind ge­schlos­sen.


Das al­les geht vor­bei

Zu­nächst scheint es, als hät­te er Glück im Un­glück. Mit ei­nem sei­ner frü­he­ren Fil­me mach­te er sich in den Au­gen des neu­en Re­gimes zwar zum Staats­feind – man nennt ihn den Ro­ten Pa­bst –, aber als frei­wil­li­ger Rück­keh­rer ist er für das Reichs­mi­nis­te­ri­um für Volks­auf­klä­rung und Pro­pa­gan­da nütz­lich. Er be­ginnt wie­der Fil­me zu dre­hen. Bald be­merkt er, dass die Pro­duk­ti­on der Fil­me viel zu gut läuft, wenn man be­denkt, dass ei­gent­lich Krieg ist. Noch nie hat er so gute Schau­spie­le­rin­nen und Schau­spie­ler ge­habt, so vir­tuo­se Ku­lis­sen­bau­er, so wir­kungs­vol­le Pro­du­zen­ten. Und über­haupt, wo kom­men die gan­zen un­ge­heu­er ge­hor­sa­men Sta­tis­tin­nen und Sta­tis­ten her? Lie­ber nicht dar­an den­ken. Die Kunst ist wich­ti­ger. Nur noch ein Meis­ter­werk, dann will er in die Schweiz flie­hen. Nur noch Der Fall Mo­lan­der. Hof­fent­lich geht der Krieg noch eine Wei­le wei­ter …


Aber die Kunst bleibt

Ge­org Wil­helm Pa­bst (1885–1967) war in Deutsch­land und Frank­reich Fil­me­ma­cher, fand in Ame­ri­ka kei­nen Er­folg und dreh­te wäh­rend des Zwei­ten Welt­kriegs für die na­tio­nal­so­zia­lis­ti­sche Ma­schi­ne­rie Fil­me. Nach Kriegs­en­de konn­te er be­ruf­lich nicht mehr re­üs­sie­ren. So viel ist über­lie­fert. Da­zwi­schen sind gros­se Lü­cken, die Da­ni­el Kehl­mann meis­ter­haft zu fül­len weiss. Er mischt in die­ser fik­ti­ven His­to­rie des Le­bens des be­rühm­ten Re­gis­seurs naht­los his­to­ri­sche Fi­gu­ren und Er­eig­nis­se mit frei er­fun­de­nen Ele­men­ten, die dazu die­nen, Fra­gen zum Wert der Kunst und zum We­sen der Mensch­lich­keit zu stel­len.

Clau­dio Lo­ren­zi, Kan­tons­bi­blio­thek Ap­pen­zell Aus­ser­rho­den