Die Geschichte um das Tor zum Süden

Bergleuch­ten : Ro­man / Ka­rin See­may­er. – Ber­lin : Auf­bau Ta­schen­buch, 2023. (978–3‑7466–3984‑0)

Er­hält­lich auch als Hör­buch und E‑Book un­ter:

Vor dem Hin­ter­grund der his­to­ri­schen Dar­stel­lung des ge­wag­ten Un­ter­neh­mens der Gott­hard­bahn­ge­sell­schaft mit dem Bau des Tors zum Sü­den spielt die Ge­schich­te der Fuhr­hal­ter­fa­mi­lie Her­ger. Er­zählt wird aus der Per­spek­ti­ve der Toch­ter der Fa­mi­lie.

Die his­to­ri­schen und tech­ni­schen Fak­ten zum Tun­nel­bau sind gut re­cher­chiert und wer­den, ver­wo­ben mit der Ge­schich­te um die Cha­rak­te­re, ver­ständ­lich und kei­nes­falls tro­cken trans­por­tiert.

Die Ge­schich­te spielt in Gösche­nen, wo mit dem Bau des Nord­por­tals vie­le, haupt­säch­lich ita­lie­ni­sche, Gast­ar­bei­ter ins Dorf kom­men. Die Fuhr­hal­ter, die ihr Geld mit dem Trans­port von Wa­ren über den Gott­hard ver­die­nen, fürch­ten um ihre Exis­tenz, die Dorf­be­woh­ne­rin­nen und Dorf­be­woh­ner um die Ruhe und Mo­ral in ih­rem be­schau­li­chen Ort. Wäh­rend der zehn Jah­re vom Be­ginn der Bau­ar­bei­ten bis zur ers­ten Bahn­fahrt durch den neu­en Tun­nel ver­die­nen die ge­schäf­ti­gen Gösche­ner an den Ar­bei­tern und ih­ren Fa­mi­li­en. Im Wis­sen dar­um, dass sie das Bau­werk nicht ver­hin­dern kön­nen, ma­chen sie so das Bes­te dar­aus. Die «Ita­lie­ner» sind al­ler­dings ste­tem Miss­trau­en und An­fein­dun­gen durch die Dorf­be­woh­ne­rin­nen und Dorf­be­woh­ner aus­ge­setzt. Als die Fuhr­hal­ter­fa­mi­lie Her­ger dem ita­lie­ni­schen Mi­neur Pie­ro eine Un­ter­kunft ver­mie­tet, weiss die Toch­ter He­le­ne nur zu gut, dass ihre El­tern eine Ver­bin­dung zu ihm nie­mals bil­li­gen wür­den. Trotz­dem ver­lie­ben sie sich, und die fik­ti­ve Lie­bes­ge­schich­te spielt vor dem rea­len Hin­ter­grund des Tun­nel­baus.

Durch die Iden­ti­fi­ka­ti­on mit den Cha­rak­te­ren aus dem Um­feld der Prot­ago­nis­ten er­lebt man die Ge­schich­te des Tun­nel­baus haut­nah mit. Man trau­ert um die To­ten, freut sich über Er­fol­ge und ist ge­rührt über die Ges­te der In­ge­nieu­re beim Durch­stoss, wel­cher acht Jah­re nach Bau­be­ginn fast auf den Cen­ti­me­ter ge­nau ge­lingt – zu die­ser Zeit eine un­glaub­li­che Meis­ter­leis­tung von Ver­mes­sung und Bau­kunst. Die Ar­beits­be­din­gun­gen im Tun­nel sind al­ler­dings mi­se­ra­bel, es gibt im­mer wie­der Ver­letz­te und Tote durch Ex­plo­sio­nen, Ein­stür­ze und Krank­hei­ten. Es kommt zu Auf­ruhr und zum Streik, was wie­der­um die Feind­se­lig­keit der Ein­woh­ne­rin­nen und Ein­woh­ner ge­gen­über den Ar­bei­tern be­feu­ert. Lou­is Fav­re, der Lei­ter des ge­wag­ten Un­ter­neh­mens, steht durch Ver­trä­ge selbst enorm un­ter Zeit- und Er­folgs­druck, und so stellt er die Si­cher­heit der Ar­bei­ter durch leicht­sin­ni­gen Um­gang mit Spreng­stoff, schlech­ter Be­lüf­tung im Tun­nel und man­gel­haf­ter Hy­gie­ne hin­ter das mög­lichst schnel­le Vor­an­kom­men auf der Bau­stel­le.

Ka­rin See­may­er un­ter­hält ihre Le­se­rin­nen und Le­ser mit span­nen­den Ro­ma­nen, die in un­ter­schied­li­chen Erd­tei­len an­ge­sie­delt sind. Gleich­zei­tig ver­mit­telt sie his­to­ri­sche Tat­sa­chen, und es ge­lingt ihr, von den be­schrie­be­nen Or­ten rea­lis­ti­sche Bil­der aus der da­ma­li­gen Zeit zu zeich­nen. Bald wähnt man sich auf ei­ner spek­ta­ku­lä­ren Fahrt mit dem Pfer­de­fuhr­werk auf den Keh­ren über den Gott­hard oder auf der be­leb­ten Gross­bau­stel­le im 19. Jahr­hun­dert. Das Buch ist un­ter­halt­sam und leicht ge­schrie­ben – und da­bei durch­aus lehr­reich.

An­drea Zür­cher, Bi­blio­thek Re­he­to­bel