Wenn Stauseen Geheimnisse bewahren

Das ver­sun­ke­ne Dorf : Kri­mi­nal­ro­man / Oli­vi­er No­rek ; aus dem Fran­zö­si­schen von Alex­an­dra Höl­scher. – Mün­chen : Karl Bles­sing Ver­lag, 2022. (978–3‑89667–664‑1)

Bei der Fest­nah­me ei­nes Dro­gen­dea­lers er­lei­det die Kom­mis­sa­rin Noé­mie Chas­tain eine schwe­re Schuss­ver­let­zung: Fort­an ist eine Hälf­te ih­res Ge­sichts ent­stellt. Sie kämpft sich mit Hil­fe ei­nes The­ra­peu­ten ins Be­rufs­le­ben zu­rück, muss aber nach ih­rer Rück­kehr fest­stel­len, dass sie den Platz in ih­rem Team ver­lo­ren hat. Von ih­rem Vor­ge­setz­ten wird sie ge­gen ih­ren Wil­len aus Pa­ris in die süd­fran­zö­si­sche Pro­vinz ver­bannt. Dort soll sie als Ver­trau­ens­per­son ein Kom­mis­sa­ri­at über­wa­chen, um fest­zu­stel­len, ob die Dienst­stel­le ge­schlos­sen wer­den soll oder nicht. Noé­mie über­nimmt die­sen Job nur, um schnellst­mög­lich wie­der ihre Ar­beit als Lei­te­rin des Dro­gen­ein­satz­kom­man­dos in der ge­lieb­ten Gross­stadt zu über­neh­men.

Kurz be­vor die Rück­kehr nach Pa­ris an­steht, treibt im na­he­ge­le­ge­nen Stau­see von Ava­lo­ne eine Plas­tik­ton­ne an die Ober­flä­che, in der die ver­wes­te Lei­che ei­nes Kin­des liegt. Und schon be­fin­det sich Noé­mie Chas­tain mit­ten in ei­nem bis­her un­ge­klär­ten Fall, der an Bri­sanz kaum zu über­bie­ten ist. Als vor fünf­und­zwan­zig Jah­ren das alte Dorf Ava­lo­ne ge­flu­tet wur­de, weil es ei­nem Stau­see wei­chen muss­te, ver­schwan­den drei Kin­der spur­los. Es gab zwar ei­nen ver­däch­ti­gen Wan­der­ar­bei­ter, aber kei­ne Be­wei­se für sei­ne Be­tei­li­gung, und das Schick­sal der Kin­der konn­te nie ge­klärt wer­den. Auch wenn die Kom­mis­sa­rin ge­gen den Wi­der­stand der Dorf­ge­mein­schaft er­mit­teln muss, die eine Mau­er des Schwei­gens um die Ver­gan­gen­heit er­rich­tet hat, tau­chen im­mer mehr Ge­heim­nis­se auf. Im Lau­fe der Er­mitt­lun­gen be­gibt sie sich in im­mer grös­se­re Ge­fahr.

Das ver­sun­ke­ne Dorf

Das ti­tel­ge­ben­de «ver­sun­ke­ne Dorf» als Schau­platz für die­sen gleich­na­mi­gen Kri­mi­nal­ro­man zu wäh­len, er­zeugt eine ganz be­son­de­re At­mo­sphä­re. Ge­heim­nis­voll und et­was gru­se­lig, wenn man dar­über nach­denkt, wel­che Ge­schich­ten, wel­che Schick­sa­le mit den Was­ser­flu­ten un­ter­ge­gan­gen sein könn­ten. Der mehr­fach aus­ge­zeich­ne­te Au­tor Oli­vi­er No­rek fängt dies mit stim­mungs­vol­len, aber nie ba­na­len Be­schrei­bun­gen ein, macht oft nur An­deu­tun­gen und über­lässt es der Fan­ta­sie der Le­se­rin oder des Le­sers, die Leer­stel­len zu fül­len. Bei der Be­schrei­bung der Po­li­zei­ar­beit hin­ge­gen ist er sehr prä­zi­se und rea­li­täts­nah, was nicht wei­ter ver­wun­dert, da er als Po­li­ce Lieu­ten­ant in Sei­ne-Saint-De­ni­se ge­ar­bei­tet hat.

In die­sem un­ter die Haut ge­hen­den Ro­man aus ei­ner Mi­schung aus Dra­ma und Kri­mi wird Noé­mies Ge­schich­te mit der des Dor­fes ver­bun­den. «Hier ha­ben wir die in­tak­te Sei­te Ih­res Pro­fils und ein rei­zen­des Dörf­chen, da ha­ben wir die ver­wun­de­te Sei­te Ih­res Pro­fils und das ver­sun­ke­ne Dorf, das schreck­li­che Er­in­ne­run­gen wach­ruft.» Die Kom­mis­sa­rin, wie auch die Dorf­be­völ­ke­rung von Ava­lo­ne, wer­den ge­zwun­gen, sich mit ih­rer Ver­gan­gen­heit zu ver­söh­nen. Und wäh­rend Noé­mie die Ge­heim­nis­se des Or­tes ent­hüllt, fin­det sie auch zu sich selbst zu­rück.

Der Schreib­stil ist klar, nüch­tern und in­ten­siv, kein Wort ist zu viel, und den­noch be­rührt die Ge­schich­te. Das Buch liest sich flüs­sig und an­ge­nehm und kann kaum mehr aus der Hand ge­legt wer­den, da die Span­nung steigt, je wei­ter die Er­mitt­lun­gen fort­schrei­ten. Bis zum schlüs­si­gen Ende gibt es über­ra­schen­de Wen­dun­gen und die Auf­lö­sung des Falls ist nicht vor­her­seh­bar.

Ka­rin Sut­ter, Bi­blio­thek Teu­fen