Bei sich selbst ankommen

Ge­rald Hüt­her, Lieb­lo­sig­keit macht krank. – Frei­burg : Her­der, 2021. (978–3‑451–60099‑9).

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Der be­kann­te Hirn­for­scher Ge­rald Hüt­her er­forscht Wege zu ei­ner le­bens­wer­ten und mensch­li­che­ren Ge­sell­schaft. In sei­nem neus­ten Buch setzt er sich da­mit aus­ein­an­der, wes­halb aus­ge­rech­net in Län­dern mit den bes­ten Ge­sund­heits­sys­te­men im­mer mehr Men­schen an Zi­vi­li­sa­ti­ons­krank­hei­ten lei­den. Er zeigt auf, wel­che Rol­le das Ge­hirn spielt, wenn ein Mensch krank wird und wel­che Fak­to­ren die Ent­ste­hung und Er­hal­tung von Ge­sund­heit för­dern.

Ver­bun­den­heit und Frei­heit

Men­schen be­nö­ti­gen als so­zia­le We­sen Zu­ge­hö­rig­keit und gleich­zei­tig möch­ten sie durch ihr ei­ge­nes Han­deln et­was be­wir­ken. Wer­den die­se bei­den see­li­schen Grund­be­dürf­nis­se nicht be­frie­digt – sei es, dass wir kei­nen An­schluss fin­den oder aus der Ge­mein­schaft aus­ge­schlos­sen wer­den, sei es, dass wir das Ge­fühl ha­ben, nicht selbst­wirk­sam zu sein –, ent­steht ein schmerz­haf­tes Ge­fühl. Bei die­ser Art Schmerz wer­den die­sel­ben Zen­tren im neu­ro­na­len Netz­werk ak­ti­viert, wie wenn uns kör­per­li­cher Schmerz wi­der­fährt. Um sol­chen Schmerz nicht zu füh­len, kön­nen wir das ei­ge­ne Be­dürf­nis nach Ver­bun­den­heit und Au­to­no­mie im­mer wie­der un­ter­drü­cken, bis wir es nicht mehr wahr­neh­men. Al­ler­dings ver­braucht die­se An­pas­sungs­leis­tung enorm viel En­er­gie. Das macht uns auf Dau­er krank. Das Glei­che pas­siert, wenn wir in Sa­chen Be­frie­di­gung der see­li­schen Grund­be­dürf­nis­se fehl­ge­lei­tet wer­den. Wenn wir glau­ben, Zu­ge­hö­rig­keit sei nur mög­lich, wenn wir ma­te­ri­ell er­folg­reich sind, wenn wir zu Ruhm und An­se­hen kom­men. Ver­schrei­ben wir uns dem Stre­ben nach der­ar­ti­gem «Er­folg», ist es auch mit der Au­to­no­mie nicht mehr weit her. Es führt dazu, dass wir uns frü­her oder spä­ter im be­rüch­tig­ten Hams­ter­rad wie­der­fin­den, uns im wahrs­ten Sin­ne ab­stram­peln ohne das Ge­fühl zu ha­ben, tat­säch­lich et­was zu be­wir­ken. Sich da­mit ab­zu­fin­den und die see­li­schen Grund­be­dürf­nis­se sys­te­ma­tisch zu un­ter­drü­cken, ist letzt­end­lich lieb­lo­ses Ver­hal­ten sich selbst ge­gen­über.

Selbst­für­sor­ge als Ge­sund­heits­vor­sor­ge

Hüt­her stellt die The­se auf, dass lie­be­vol­les Ver­hal­ten uns selbst und an­de­ren ge­gen­über Grund­stein für ein glück­li­ches und ge­sun­des Le­ben ist. Lie­be­vol­les Ver­hal­ten sich selbst ge­gen­über be­deu­tet, die ei­ge­nen Be­dürf­nis­se ernst zu neh­men und da­nach zu han­deln. Lie­be­vol­les Ver­hal­ten an­de­ren ge­gen­über be­deu­tet (auch), sie nicht in Rol­len und Po­si­tio­nen zu zwän­gen, die ver­meint­lich von der Ge­sell­schaft für ein er­folg­rei­ches Le­ben ver­langt wer­den. Ge­mäss Hüt­her ste­hen die Vor­stel­lun­gen dar­über, was es braucht, um mög­lichst reich und er­folg­reich zu sein, in Wi­der­spruch zu dem, was es braucht, um ge­sund zu sein.

Zu­rück zum We­sent­li­chen

Da un­ser Ge­hirn zeit­le­bens form­bar bleibt, ist es mög­lich, fest­ge­fah­re­ne Mus­ter auf­zu­ge­ben und ei­nen neu­en Um­gang mit sich selbst zu fin­den. Es kann ge­lin­gen, in­dem wir uns auf un­se­re ur­ei­ge­ne Kom­pe­tenz be­sin­nen, Hil­fe von be­freun­de­ten Men­schen an­neh­men und zum Ver­trau­en zu­rück­fin­den, dass Pro­ble­me – egal wie un­über­wind­bar sie schei­nen – po­si­tiv ge­löst wer­den kön­nen. Nur so kann letzt­lich in­ne­res Glück ent­ste­hen, wel­ches wie­der­um un­se­re Ge­sund­heit be­ein­flusst.

Das Buch ist leicht ver­ständ­lich ge­schrie­ben. Ge­rald Hüt­her ge­lingt es, eine kom­ple­xe The­ma­tik an­schau­lich zu be­schrei­ben.

Bas­ti­an Ri­cken­ba­cher, Kan­tons­bi­blio­thek Ap­pen­zell Aus­ser­rho­den