Apeirogon

Apei­ro­gon : Ro­man / Co­lum Mc­Cann ; aus dem Eng­li­schen von Vol­ker Ol­den­burg. – Ham­burg : Ro­wohlt, 2020. (978–3‑498–04533‑3)

Er­hält­lich auch als E‑Book un­ter:

Wenn ich ge­fragt wer­de, wel­ches Buch mich in letz­ter Zeit am stärks­ten be­rührt hat, so ist mein Fa­vo­rit zwei­fel­los «Apei­ro­gon» von Co­lum Mc­Cann. Ein gross­ar­ti­ges Buch über Lie­be, Freund­schaft und Frie­den, das ich im Rah­men die­ses Me­di­en­tipps ein­fach al­len herz­lich emp­feh­len möch­te. Trotz kom­ple­xem, kunst­vol­lem Auf­bau liest sich das Buch leicht. Mich per­sön­lich hat es nach kur­zer Zeit der­art in Bann ge­zo­gen, dass ich, nach­dem ich es längst fer­tig ge­le­sen hat­te, ei­ni­ge Schwie­rig­kei­ten be­kam, mich mit ei­ner neu­en Lek­tü­re an­zu­freun­den.

Es ist die rea­le Ge­schich­te zwei­er Vä­ter, Rami, dem Is­rae­li, und Bassam, dem Pa­läs­ti­nen­ser, de­ren Töch­ter – die eine zehn, die an­de­re drei­zehn Jah­re alt – je­weils von der feind­li­chen Sei­te er­mor­det wur­den. Die bei­den Män­ner ler­nen sich ken­nen, kom­men sich nä­her, trös­ten sich, nen­nen sich ge­gen­sei­tig Bru­der und be­gin­nen, die Ge­schich­te vom Tod ih­rer Töch­ter öf­fent­lich zu er­zäh­len. Von Sma­dar, die Op­fer ei­nes pa­läs­ti­nen­si­schen Selbst­mord­at­ten­tats ge­wor­den ist, von Abir, die durch ein Gum­mi­ge­schoss ei­nes is­rae­li­schen Grenz­po­li­zis­ten ums Le­ben ge­kom­men ist.

Co­lum Mc­Cann, der gros­se, mit dem Na­tio­nal Book Award aus­ge­zeich­ne­te iri­sche Au­tor, hat die bei­den Vä­ter ge­trof­fen, hat sie von Lie­be und Ver­söh­nung re­den hö­ren so­wie vom Wunsch, die bei­den Mäd­chen le­ben­dig in Er­in­ne­rung zu be­hal­ten. Dank der Er­laub­nis von Rami Elhanan und Bassam Ara­min, ihre Ge­schich­te auf­schrei­ben so­wie hie und da von der Wirk­lich­keit ab­wei­chen zu dür­fen, hat Co­lum Mc­Cann die­sen wun­der­ba­ren Ro­man ge­schaf­fen.

Ka­lei­do­skop­ar­tig wird die zen­tra­le Hand­lung von ei­nem Kos­mos von 1’001 kür­zes­ten Ge­schich­ten um­rahmt, die teil­wei­se aus nur ei­nem Satz be­stehen – eine Hom­mage an Tau­send­und­ei­ne Nacht. Die­se Ge­schich­ten aus al­ler Welt glei­chen ei­nem Apei­ro­gon, dem geo­me­tri­schen Be­griff ei­nes Viel­ecks mit un­end­lich vie­len Ecken, das bei­na­he zu ei­nem Kreis wird, und um­rah­men das Le­ben von Rami so­wie Bassam. Und als Le­se­rin­nen und Le­ser mer­ken wir bald, dass sie alle in ir­gend­ei­ner Art und Wei­se zum is­rae­lisch-pa­läs­ti­nen­si­schen Kon­flikt ge­hö­ren.

Noch nie habe ich über die­sen Kon­flikt so viel er­fah­ren und ihn so gut ver­stan­den wie nach «Apei­ro­gon». Zu­dem habe ich ge­lernt, dass je­des Jahr über fünf­hun­dert Mil­lio­nen Vö­gel auf ih­rer Flug­rou­te in un­ter­schied­lichs­ten Hö­hen über Is­ra­el und Pa­läs­ti­na hin­weg­zie­hen – hin­weg über alle Gren­zen, Mau­ern und Check­points – in völ­li­ger Frei­heit.

Ursi Len­den­mann, Bi­blio­Gais