Schmuggler, Häftling, Dieb, Kämpfer, Retter – von einem der überlebte

Ta­kis Wür­ger, Noah : von ei­nem, der über­leb­te. – Mün­chen : Pen­gu­in Ver­lag, 2021. (978–3‑328–60167‑8).

Er­hält­lich auch als Hör­buch un­ter:

«Ich weiss, es ist schwer zu er­tra­gen, aber es war so.» Der Satz von Noah Klie­ger steht ganz am An­fang des klei­nen blau­en Bu­ches aus dem Pen­gu­in Ver­lag. Auf 150 Sei­ten schreibt Ta­kis Wür­ger auf, was der 93-jäh­ri­ge Noah Klie­ger ihm in vie­len Stun­den In­ter­view über sein Le­ben er­zählt – ein Le­ben als Ho­lo­cau­st­über­le­ben­der.

Noah wur­de 1925 in Strass­burg ge­bo­ren und starb 2018 in Tel Aviv. Sei­ne El­tern wa­ren Zio­nis­ten und wünsch­ten sich ei­nen jü­di­schen Staat in Pa­läs­ti­na. Sie wa­ren stolz, Ju­den zu sein. Noah wur­de so er­zo­gen, so dach­te auch er.

Als er 13 war, half er sei­nem Va­ter, ge­stoh­le­ne Le­bens­mit­tel­mar­ken an hun­gern­de Ju­den zu ver­tei­len. Lis­ten von Ju­den mit sich her­um­zu­tra­gen war ge­fähr­lich. Des­halb lern­te Noah sie aus­wen­dig. Er hat­te ein gu­tes Ge­dächt­nis, er ver­gass nichts. Spä­ter schmug­gel­te er mit Freun­den jü­di­sche Kin­der in die Schweiz. Ge­ra­de als er sich 1942 sel­ber ab­set­zen woll­te, flog er auf und wur­de ins Haupt­quar­tier der Ge­sta­po ge­bracht. Die De­por­ta­ti­on nach Ausch­witz folg­te ei­ni­ge Tage spä­ter. Auf den 48 fol­gen­den Sei­ten schafft es der Au­tor, das grau­sa­me To­ten­kopf­re­gime der SS ein­drück­lich zu schil­dern. Mit kur­zen, ein­fa­chen Sät­zen ver­mag er eine Un­mit­tel­bar­keit zu schaf­fen, die den Le­ser und die Le­se­rin mit Wucht trifft. Die­se Sei­ten sind nicht leicht zu er­tra­gen, auch wenn klei­ne, aber be­deut­sa­me Mensch­lich­kei­ten in all die­sen Un­ge­heu­er­lich­kei­ten uns kurz auf­at­men las­sen.

Das Ende der Schre­cken

Wir wis­sen es – Noah hat über­lebt und ver­such­te, nach der Be­frei­ung in sein ge­lob­tes Land zu ge­lan­gen. Er war da­bei, als die Ex­odus, das Schiff mit 4’515 jü­di­schen Flücht­lin­gen, vor Hai­fa von bri­ti­schen Sol­da­ten be­schos­sen, er­stürmt und zur Rück­kehr nach Deutsch­land ge­zwun­gen wur­de, wo sie – wie­der – in La­ger ge­sperrt wur­den. Ein in­ter­na­tio­na­ler Auf­schrei be­en­de­te das bri­ti­sche Man­dat für Pa­läs­ti­na und er­mög­lich­te die Rück­kehr der Ex­odus und die Grün­dung des Staa­tes Is­ra­el. Noah Klie­ger war auch hier da­bei und half beim Auf­bau sei­nes Lan­des. Er wur­de ein er­folg­rei­cher Sport­jour­na­list und hielt als Zeit­zeu­ge in vie­len Län­dern in Re­den und Vor­trä­gen die Er­in­ne­run­gen an die Sho­ah le­ben­dig. Er ver­such­te, die Ent­ste­hung der Er­eig­nis­se nach­zu­voll­zie­hen, schei­ter­te aber im Ver­such, den Ho­lo­caust zu be­grei­fen.

Man schick­te ihn an die Ausch­witz-Pro­zes­se, ob­wohl er nie mehr ei­nen Fuss auf deut­schen Bo­den set­zen woll­te. «Aber du weisst, was dort pas­siert ist. Du kannst es er­mes­sen.» Er reis­te also im Au­gust 1965 nach Frank­furt und be­rich­te­te da­nach von vie­len Ge­richts­ver­fah­ren ge­gen die Kriegs­ver­bre­cher des Nazi-Re­gimes.

Es ist nie ein­fach, über den Ho­lo­caust zu schrei­ben, ohne sich gros­ser Kri­tik aus­zu­set­zen. Mit sei­nem zwei­ten Buch «Stel­la» hat­te Wür­ger vor zwei Jah­ren ei­nen wah­ren Kri­tik­sturm aus­ge­löst. Es ging da­mals um die Jü­din Stel­la Gold­schlag, wel­che in der Na­zi­zeit, um sich und ihre El­tern vor der De­por­ta­ti­on zu ret­ten, ver­steck­te Ju­den bei der Ge­sta­po de­nun­zier­te. Auch Stel­la be­ruht auf ei­ner his­to­ri­schen Fi­gur. Wür­gers drit­ter Ro­man «Noah» ist kein Skan­dal ge­wor­den, er hat sich ab­ge­si­chert. «Noah hat mir sei­ne Ge­schich­te er­zählt. Er hat sie, wie sie hier steht, ge­le­sen und re­di­giert”, schreibt Wür­ger im Nach­wort. Ein zwei­tes Nach­wort stammt von Ali­ce Klie­ger, der letz­ten noch le­ben­den Ver­wand­ten No­ahs, und die Ho­lo­caust-For­sche­rin Sharon Kan­gis­ser Co­hen füg­te ein drit­tes Nach­wort über die Be­deu­tung der Oral Histo­ry und der Zeu­gen­li­te­ra­tur an.

Char­lot­te Kehl, Bi­blio­thek Spei­cher Tro­gen