Sein Glück liegt auf der Strasse

Mi­chel Si­mo­net, Mit Rose und Be­sen : Ge­dan­ken ei­nes Stras­sen­wi­schers. Bern : Nyd­egg, 2016. (978–3‑905961–15‑7)

Über­ra­schung

Kürz­lich kam ein Fran­zö­sisch­leh­rer in die Bi­blio­thek des Gym­na­si­ums und woll­te ein Buch aus­lei­hen. Zwar hat­ten wir es nicht vor Ort, da­für aber rasch im On­line­shop der lo­ka­len Buch­hand­lung ge­fun­den, so­dass ich ihm sei­nen Wunsch bald er­fül­len konn­te. Zu mei­ner Ver­wun­de­rung stell­te sich her­aus, dass ich den Au­tor ken­ne. Ob­wohl ich nie mehr als ein freund­li­ches „Bon­jour !“ mit ihm ge­wech­selt hat­te, ist er mir nach mehr als 15 Jah­ren seit der letz­ten Be­geg­nung sehr prä­sent.

Der Stras­sen­wi­scher mit der Rose

Schon in den ers­ten Ta­gen mei­nes Stu­di­ums war er mir auf dem Weg an die Uni­ver­si­tät auf­ge­fal­len. Ein Stras­sen­keh­rer im Zen­trum von Frei­burg mit ei­ner ro­ten Rose an sei­ner Schub­kar­re und ei­ner ganz be­son­de­ren Aus­strah­lung. Von ei­nem „äl­te­ren Se­mes­ter“ er­fuhr ich, dass der Stras­sen­keh­rer Theo­lo­gie stu­diert und sich an­schlies­send für die Ar­beit bei der Stras­sen­rei­ni­gung ent­schie­den hat­te. Ob­gleich mich dies da­mals schon fas­zi­nier­te, brach­te ich nie den Mut auf, ihn dar­auf an­zu­spre­chen.
Als ich beim Buch­kauf sah, dass „Une rose et un ba­lai“ schon in sechs­ter Auf­la­ge er­schie­nen und mitt­ler­wei­le auch auf Deutsch über­setzt wor­den war, war mei­ne Neu­gier­de end­gül­tig ge­weckt.

Ver­spiel­te Ge­dich­te und ge­konnt er­zähl­te An­ek­do­ten

In „Mit Rose und Be­sen“ ver­sam­melt der Mitt­fünf­zi­ger Er­in­ne­run­gen und Er­fah­run­gen aus den drei Jahr­zehn­ten sei­ner Tä­tig­keit auf den Stras­sen und Plät­zen Frei­burgs. Ob­schon er mit viel Lo­kal­ko­lo­rit von Men­schen und Be­ge­ben­hei­ten be­rich­tet, sind sei­ne Zei­len auch für jene le­sens­wert, die Frei­burg nicht ken­nen. Er be­schränkt sich zwar auf Lo­ka­les, ver­weist aber auf Uni­ver­sel­les. Wie ein Ma­ler mit dem Pin­sel, denkt der Stras­sen­wi­scher mit dem Be­sen und formt geist­rei­che und von Wort­witz ge­präg­te Tex­te.
Wie­so wähl­te er die­sen Be­ruf? Weil ihm ein frei­er Kopf und be­schäf­tig­te Hän­de lie­ber sind als um­ge­kehrt. Die Stras­sen und Plät­ze sind ihm nicht nur Ar­beits­platz, son­dern Fit­ness­stu­dio und So­la­ri­um an schö­nen Ta­gen. „Ich sin­ge wie die Gril­le und ar­bei­te da­bei wie die Amei­se, den wei­ten Him­mel über mir als ein­zi­ge Gren­ze, in di­rek­ter Li­nie zu Un­se­rem Va­ter.“
Idea­li­siert er sei­ne har­te Ar­beit nicht all­zu sehr? Nein, je­den­falls nicht, wenn er die mor­gend­li­che Dun­kel­heit und Käl­te im Win­ter so­wie die Über­ra­schun­gen der ers­ten Ar­beits­stun­de schil­dert: „Hin­ter­las­sen­schaf­ten nächt­li­cher Ge­la­ge, Scher­ben und Split­ter von Fla­schen und Glä­sern; Er­bro­che­nes, und dies be­son­ders im De­zem­ber, dem Mo­nat der Ge­schäfts­es­sen in den Knei­pen …“
Hu­mor­voll be­rich­tet er, wie er frü­her mit sei­nen Be­rufs­kol­le­gen zur Weih­nachts­zeit im Werk­hof ei­nen Stras­sen­ar­bei­ter­baum schmück­te: „… ei­nen ka­put­ten Re­gen­schirm als Spit­ze, ei­nen al­ten Kar­ton und ver­gilb­te Hei­li­gen­bild­chen für die Krip­pe, und na­tür­lich für den Duft ei­nen not­dürf­tig be­fes­tig­ten Hun­de­hau­fen. Im Stall von Beth­le­hem wird es auch nicht nach Ro­sen ge­duf­tet ha­ben.“

Das Glück

Mi­chel Si­mo­net er­zählt in sei­nem be­rüh­ren­den Buch von sich, sei­ner Stadt und sei­ner Ar­beit, bei der ihn be­glei­tet:
„Mein alt­mo­di­scher Kar­ren,
der Ro­sen­thron,
Sym­bio­ti­sche Kol­le­gen
Schwes­ter in Far­be und Os­mo­se,
Mit Schwung bis zur Ar­thro­se.“
Der Stras­sen­wi­scher hat mit sei­nem Be­ruf auch sein Glück ge­fun­den. Mit Rose und Be­sen lässt er uns dar­an teil­ha­ben.

Lino Pi­nar­di, In­ner­rho­di­sche Kan­tons­bi­blio­thek