Logo

Shafak, Elif. Ehre : Roman ; aus dem Englischen von Michaela Grabinger. - Zürich : Kein & Aber, 2014.
(ISBN 978-3-0369-5676-3)

Mit diesem Buch ist der türkischen Schriftstellerin Elif Shafak ein packender Generationenroman gelungen.

Die Zwillingsschwestern Jamila und Pembe sind ein Herz und eine Seele, werden aber vom Leben getrennt. Jamila bleibt allein in ihrem kurdischen Dorf am Ufer des Euphrat zurück und arbeitet als Hebamme und Heilerin.

Pembe, verheiratet und Mutter von drei Kindern, zieht mit ihrer Familie nach London. Beide bleiben jedoch ihr ganzes Leben lang eng miteinander verbunden.

Bald kriselt es in Pembes Ehe, ihr Mann wendet sich einer anderen Frau zu, und die Kinder haben ihre eigenen Interessen und Absichten. Als Pembe ihrerseits einen Mann kennenlernt, der ihr gefällt, sieht sie sich mit vielen Widrigkeiten und Problemen konfrontiert. Wird sie als verheiratete Frau mit einem fremden Mann in der Öffentlichkeit gesehen, steht die Ehre der Familie auf dem Spiel. Die Autorin schildert eindrücklich den tief in den Köpfen und Herzen verwurzelten Ehrbegriff:

„Ein Mann, den man um seine Ehre gebracht hatte, war ein toter Mann. Er konnte sich nicht mehr auf der Strasse blicken lassen, es sei denn, er gewöhnte sich daran, den Blick ständig gesenkt zu halten. Er konnte nicht mehr ins Teehaus gehen und eine Runde Backgammon spielen oder sich in der Kneipe ein Fussballspiel ansehen. Ein solcher Mann liess die Schultern hängen, ballte die Fäuste, seine Augen sanken tiefer in die Höhlen; er wurde zu einem apathischen Wesen, das sich mit jedem neuen Gerücht ein Stück weiter krümmte. Niemand hörte zu, wenn er sprach, sein Wort galt nicht mehr als getrockneter Dung. Die Zigarette, die er einem anderen anbot, blieb ungeraucht, jeder Kaffee, den er trank, schmeckte bitter. Aus Furcht, er könnte sein Unglück mitbringen, lud man ihn zu keiner Hochzeit, zu keiner Beschneidungs- oder Verlobungsfeier mehr ein. Ausgeschlossen und von Schande umgeben schrumpfte er wie Dörrobst…“

Wie wenig es braucht, um an dieser Ehre zu kratzen, ist für uns oft schwer verständlich, ebenso die brutale Reaktion der männlichen Familienmitglieder auf kleinste „Vergehen“ der Frauen. Diese brauchen Mut und Entschlossenheit, um ihren Ehemännern, Vätern und Brüdern entgegentreten zu können, auch wenn sie in einem westlichen Land leben. Wird es einen Neubeginn für Pembe geben? Welchen Weg werden die Kinder zwischen den Traditionen der Familie und den Gepflogenheiten der neuen Umgebung wählen? Welche Rolle spielt dabei ihre Tante Jamila?

Elif Shafak nimmt die Lesenden mit auf eine Reise von Ost nach West – und zurück. Die verschiedenen zeitlichen Ebenen, die Orts- und Perspektivenwechsel machen die Lektüre dieses Familienromanes äusserst spannend. Man taucht ein in die verschiedenen Welten und ist sofort gefesselt und bestens unterhalten. Die Autorin, 1971 in Strassburg geboren, gilt als Star der türkischen Literaturszene und gehört zu den meistgelesenen Schriftstellerinnen in der Türkei. Sie schreibt in türkischer und englischer Sprache. Die in ihrer Heimat zum Teil heftig umstrittenen Werke sind in über dreissig Ländern erschienen.

Esther Gähler, Bibliothek Teufen

 

© Bibliotheken Appenzell Ausserrhoden und Innerrhoden