Bollmann, Stefan. Frauen, die lesen, sind gefährlich : lesende Frauen in Malerei und Fotografie. – München : Elisabeth Sandmann Verlag, 2005.
(ISBN 3-938045-06-X)
„Erlesene“ Freiheit
Jahrhunderte lang bestand die Aufgabe der Frau im Besorgen des Haushaltes und der Erziehung der Kinder. Die Welt ausserhalb des heimischen Herdes, die Welt des Wissens und der Bildung, war ausschliesslich den Männern vorbehalten.
Als der Frau endlich erlaubt ist zu lesen, was sie möchte, als ihr durch das Lesen die Möglichkeit eröffnet wird, die Enge des häuslichen Lebens zu verlassen, den Gedanken und der Phantasie Flügel wachsen zu lassen, beginnt der Siegeszug der Literatur unter den Frauen. Welcher ja bekanntlich bis heute ungebrochen ist!
Frauen konnten sich nun Wissen aneignen, das ursprünglich nicht für sie bestimmt war. Dies rief natürlich nebst Befürwortern auch etliche Kritiker auf den Plan. Sie sahen in der erwachenden „Lesewut“ der Frauen einen weiteren Verfall von Sitte und Ordnung. Denn lesende Frauen sind denkende, kritische Frauen, welche fest gefügte Normen und bestehende Gesellschaftsformen in Frage stellen. Stefan Bollmann formuliert es so: „ Sie beginnt sich ihr eigenes Bild von der Welt zu machen, das mit dem der Tradition und des Mannes nicht übereinstimmen muss“. Denn, „Das genau haben die Männer noch nie gern an den Frauen gesehen: dass sie zu sehr durchblicken. Darum gab es noch im 18. Jahrhundert in die Einbände mancher Romane Faden und Nadel eingelassen, um die Frauen daran zu erinnern, was ihre eigentliche Bestimmung war: nicht lesen, sondern den Haushalt in Ordnung halten“, schreibt Elke Heidenreich in ihrem Vorwort zum Buch.
Gefährliche Leserinnen
Wo liegt die Gefährlichkeit - und auch die Sinnlichkeit - in den Bildern lesender Frauen? Die Gefährlichkeit wurde angetönt. Die lesende Frau hinterfragt, sie wird selbstbewusst und aufmüpfig. Doch wieso Sinnlichkeit?! Die Faszination, die die Lesende auf den Maler ausübt, ist in vielen Bildern spürbar. Intime Momente der Zwiesprache mit dem Buch werden auf die Leinwand gebannt. Die Frauen werden in allen Situationen des Lesens dargestellt: im Schaukelstuhl inmitten eines blühenden Gartens sitzend, unbekleidet auf dem Bett liegend. Pieter Janssens Elingas Bild „Lesende Frau“ zeigt ein Dienstmädchen, welches seine Pflichten völlig vernachlässigend in einen Heldenroman versunken ist. Eine andere Leserin ist gefesselt von der Lektüre, saugt jedes Wort in sich auf. Eine weitere hat ihr Buch auf den Schoss sinken lassen, der entrückte Blick lässt darauf schliessen, dass sie noch ganz im soeben Gelesenen gefangen ist.
Bildreise durch die Jahrhunderte
Elke Heidenreich und der Autor des Bildbandes, Stefan Bollmann, gehen dieser Faszination der lesenden Frau im ersten Teil des Buches auf sensible Weise nach. Der grosse Teil des Bandes aber gehört ganz den Künstlern und ihren Bildern. Seite für Seite kann sich der Betrachter von grossformatigen Farbabbildungen verzaubern lassen. Der Begleittext geht näher auf das gemalte Bild oder die Fotografie und den Künstler (es sind vorwiegend Männer) ein. Der Bilderbogen spannt sich dabei vom 13. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Der Schwerpunkt der gezeigten Motive liegt auf dem 19. und 20. Jahrhundert.
Dieses Buch ist eine wunderbare Hommage an die lesende, träumende, denkende Frau. Und an die Künstler und Künstlerinnen, die von ihr durch die Jahrhunderte bis heute inspiriert wurden und werden.
Annette Bünzli, Innerrhodische Kantonsbibliothek Appenzell