Schmidbauer, Wolfgang. Die einfachen Dinge. – München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2003.
(ISBN 3-423-36308-8)
Von dummen und intelligenten Dingen
Hinter Schmidbauers simplem Titel «Die einfachen Dinge» verbirgt sich ein komplexes Thema. Das Buch ist Lexikon und Unterhaltung. Man kann es schmunzelnd oder nachdenklich betrachtend lesen. Schmidbauer beobachtet kritisch und witzig den Konsummenschen und stellt die Frage, was eigentlich wahrer Fortschritt sei. Er stellt die verwirrende Vielfalt, die technischen Extravaganzen unserer Konsumgüter den «einfachen Dingen» wie Axt, Hammer oder Sense gegenüber.
Auto
Die ökologische Kritik an dem hohen Verbrauch und dem Abgasvolumen veralteter Motorfahrzeuge wird heute von der Industrie ernst genommen; eine psychologische Kritik an den verwöhnenden Aspekten der Auto-Hochtechnologie nicht. Wenn die modernen Fahrzeuge dem Fahrer geistige Leistungen abnehmen, die zu Zeiten einer unvollkommeneren Technik unentbehrlich waren, dann besteht die Gefahr, dass die verlorenen Reize durch überhöhte Geschwindigkeit sozusagen künstlich gesucht werden. Es fehlt gegenwärtig nicht an perfekten, wunderbar gemachten und teuren Fahrzeugen; hier hat die Konkurrenz der Ingenieure Grossartiges erreicht. Was fehlt, sind Fahrzeuge, die billig, leicht, sparsam und vor allem geistig anregend sind, weil sie den Bastler wecken, der in jedem Menschen schlummert. Bastler sind vor vielen psychischen Gefahren der Konsumgesellschaft geschützt: Sie haben zu tun, sie sind selten depressiv, sie sind nicht verwöhnt, sie neigen nicht zur Kriminalität, sie setzen sich ständig mit den Grenzen ihrer Fähigkeiten und Fertigkeiten auseinander. Ein Tag auf deutschen Autobahnen macht für mich den Eindruck unabweisbar, dass kaum noch Bastler unterwegs sind.
Bleistiftspitzer
Kindern zeigen wir, dass ein Stück Blei, wie wir es zum abergläubischen Giessen an Silvester benutzen, auf dem weissen Papier einen blassen Strich hinterlässt. Der Bleistift , den wir heute kennen, schreibt nicht mehr mit Blei, sondern mit Grafit. Er ist eines der intelligentesten Schreibwerkzeuge, von unübertroffener Bequemlichkeit und Ökonomie. Keine Füllfeder, kein Kugel- oder Faserschreiber kann so viele Zeichen mit so hoher Verlässlichkeit und so guter Überschaubarkeit für so wenig Geld bieten. Die färbende Mine ist von einem Mantel aus Holz umgeben, der sie bruchsicher macht. Abgenützt versteckt sie sich in einem Holzkragen; der Bleistift muss gespitzt werden. Meine Mutter nahm ein scharfes Federmesser und schnitt fünf bis sieben Späne so geschickt ab, dass die Bleistiftspitze wieder frei lag und die Mine einen feinen Strich zeichnete. Ein Spitzer ist ein dummes Ding. Nur ausgesprochen teure Geräte spitzen zuverlässig. Höchste Schärfe ist nötig, um Holz und Mine in einer Drehbewegung so glatt zu durchschneiden, dass eine empfindliche Mine nicht immer wieder bricht, weil die Scherkräfte zu gross sind. Aber jedes gepflegte Taschenmesser tut denselben Zweck und erspart einige Stunden Feldenkrais- oder Montessori-Pädagogik. Es weckt die schlummernden Fähigkeiten des Menschen, seine Feinmotorik so zu ordnen, dass eine fünf- bis sechsseitige, perfekte Spitzenpyramide entsteht.
Wolfgang Schmidbauer, geboren 1941, lebt als freier Schriftsteller, Psychotherapeut und Lehranalytiker in München. Seine An- und Einsichten präsentieren sich nicht als theoretische Kulturkritik, sondern konfrontieren uns mit Alltag, unsinnigen und sinnstiftenden Bedürfnissen. Fortschritt geht einher mit der Entsinnlichung der Dinge, mit Machbarkeitswahn und Hetze. «Die einfachen Dinge» aber lehren uns Bedächtigkeit, Geduld und sinnvolles Erleben.
Karin Neff, Volksbibliothek Appenzell