Henry : Roman / Florian Gottschick. – München : Penguin Verlag, 2021. (978-3-328-60148-7)
Die aufgeweckte zwölfjährige Henriette, genannt Henry, wächst wohlbehütet bei Ihren Eltern Marion und Thomas in Berlin auf. An einem regnerischen Herbsttag kehren Mutter und Tochter gemeinsam vom Wochenende im Landhaus zurück. Der Vater bleibt länger dort. In der Stadt angekommen parkt Marion den neuen BMW vor der Wohnung und trägt die Einkäufe, die sie bei einem Zwischenhalt besorgte, hinein. Henry schläft noch auf dem Rücksitz. Als Marion ihre Tochter holen will, erblickt sie jemanden beim Auto. Die Mutter hat den Wagen nicht abgeschlossen und den Schlüssel im Auto liegen gelassen. Deshalb kann sie nicht verhindern, dass sich die Gestalt in den Wagen setzt und mit der schlafenden Tochter davonfährt.
Entführer wider Willen
Was nun folgt, ist kein Thriller, bei dem man mit der Entführten und den Angehörigen mitleidet und dem Ende der Entführung entgegenfiebert. Vielmehr erzählt der Autor in der Fortsetzung ein vergnügliches Abenteuer, das ein keckes Mädchen mit einem jungen Mann erlebt, der alles andere im Sinn hat, als Henry oder ihren Eltern Leid zuzufügen.
Sven, der Entführer, steht an einem Wendepunkt seines Lebens. Seine grosse Liebe Nadja hat kürzlich mit ihm Schluss gemacht. Ausserdem hat der Autonarr soeben seine Stelle in einer Autowerkstatt verloren. Da geht er zufälligerweise an Marions neuem BMW vorbei und wird durch die Situation dazu verleitet, sich ins Auto zu setzen und davonzufahren. Erst später bemerkt er, dass er nicht nur einen Wagen entwendet, sondern auch ein Mädchen entführt hat.
Die Zwölfjährige merkt rasch, dass vom jungen Mann keine Gefahr ausgeht. Sie findet ihren Entführer sogar sympathisch und freundet sich mit ihm an. Als Bedingung für ihre Kooperation verlangt sie, dass Sven sie mit nach Hause nimmt. Deshalb fahren sie zu Nadja, wo der junge Mann noch wohnt. Die beiden gaukeln Nadja eine Verwandtschaft vor und tischen eine Lügengeschichte nach der anderen auf. Dabei versucht Sven, sich von seiner besten Seite zu zeigen und Nadja wieder für sich zu gewinnen. Henry unterstützt ihn nach Kräften und findet Gefallen an den beiden. Denn sie geniesst bei Nadja und Sven Freiheiten, die ihre Mutter nicht erlauben würde.
Die richtige Dosis Happy End
Florian Gottschick, dem erfahrenen Filmregisseur und Drehbuchautor, ist mit seinem Erstling ein unterhaltsamer Roman gelungen. Seine Protagonistin reift während ihres bisher grössten Abenteuers zur jungen Frau. Henry entdeckt unbekannte Gefühle, und sie reflektiert die Beziehung zum Vater und vor allem zur Mutter. Auch die Eltern müssen über die Bücher gehen und die familiäre Konstellation in einem neuen Licht betrachten. Der Roadtrip mit vielen sympathischen Figuren liest sich vorzüglich, macht gute Laune, regt sowohl zum Nachdenken als auch zum Schmunzeln an und weiss mit der richtigen Dosis Happy End zu gefallen. Wer das Buch nicht liest, wird wahrscheinlich bald die Gelegenheit erhalten, sich die Verfilmung der Geschichte anzusehen.
Lino Pinardi, Kantons- und Volksbibliothek Appenzell