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Der Schneeleopard / Sylvain Tesson ; aus dem Französischen von Nicola Denis. – Hamburg : Rowohlt Hundert Augen, 2021. (978-3-498-00216-9)
Erhältlich auch als Hörbuch und als E-Book unter: www.dibiost.ch

Der 1972 geborene französische Reiseschriftsteller Sylvain Tesson begibt sich mit dem Tierfotografen Vincent Munier, dessen Lebensgefährtin, der Tierfilmerin Marie Amiguet, und dem Assistenten Leo auf eine Expedition durch die Hochebenen Tibets auf die Suche nach dem fast ausgestorbenen Schneeleoparden.

Erst fährt die Gruppe einige Zeit durch den tibetischen Himalaya, dringt dabei in Regionen vor, in denen nur noch wenige Menschen unter extremen Bedingungen leben. Ab einer gewissen Höhe gibt es keine Strassen mehr. Die vier wandern stunden- und tagelang durch Schnee und Eis und biwakieren bei teilweise minus 30 Grad irgendwo im Hochgebirge. Tagelang liegen sie allein oder zu zweit bei eisigen Temperaturen im Schnee auf der Lauer, um Tag für Tag nur Yaks, Füchse und Blauschafe zu sehen. Noch ist die Schönheit der Natur überwältigend, sie wird aber unter dem Einfluss der chinesischen Republik stetig mehr zerstört.

Die vier Abenteurer haben Glück, ihre Geduld wird nach unzähligen Tagen und Stunden des Wanderns, Ausharrens und Beobachtens belohnt. Mindestens dreimal bekommen sie einen der wenigen verbliebenen, majestätisch schönen Schneeleoparden zu Gesicht. «Gegen Abend sahen wir den Leoparden noch einmal in den Zinnengängen oben auf dem Kamm. Er lag ausgestreckt, rekelte sich, erhob sich und ging mit wiegenden Schritten davon. Sein Schwanz peitschte die Luft und verharrte als Fragezeichen.»

Eine Anekdote von Vincent Munier zu einem kleinen, im Buch abgebildeten Foto: In der Mitte eines Felshangs ist ein Falke zu sehen. Im Text erfährt man, dass auf diesem Bild ein Schneeleopard zu entdecken sei. Man schaut und schaut und sieht ihn immer noch nicht. Tesson führt den Leser hin: Oben am Bildrand, über den Felsenrand guckt ein Schneeleopard dem Fotografen und dem Leser mitten in die Augen. Aber selbst der geübte Blick von Munier hatte das übersehen. Erst Monate später fiel es ihm bei der Durchsicht der Fotos auf. Später zeigt Munier dieses Bild den Kindern einer Yak-Züchter-Familie, bei der sie zu Gast sind. Diese Kinder haben einen geübten Blick: sofort deuten ihre Finger auf den Schneeleoparden im Bild.

Die Reise wird in kurzen Kapiteln chronologisch beschrieben. Es ist weniger ein Reisebericht oder ein Tagebuch als vielmehr das Erzählen von Begegnungen mit den Menschen und Tieren, von Erkenntnissen durch die Expedition, das Beschreiben der geschundenen Landschaft Tibets und über das Zusammenleben der kleinen Gruppe in 4000-5000 Meter Höhe. Tessons poetische und philosophische Betrachtungen und die sozialkritischen und eindringlichen Worte berühren. Das engagierte Buch bewegt und hallt lange nach.

Franziska Tschumi, Bibliothek Herisau

 

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