Michael Christie, Das Flüstern der Bäume : Roman. – München : Penguin Verlag, 2020. (978-3-328-60079-4)
Der kanadische Psychologe Michael Christie erzählt in seinem zweiten Roman «Das Flüstern der Bäume» eine packende Familiensaga. Dabei schildert er die abwechslungsreichen Ereignisse rund um die Familie Greenwood wie eine Abfolge von Jahresringen. Er beginnt im Jahr 2038 in einer fiktiven, düsteren Zukunft. Dann dringt er nach und nach ein in die Geschichte bis an den Anfang im Jahr 1908. Schliesslich rückt er wieder Richtung Zukunft vor.
Das Tagebuch der Urgrossmutter
Jacinda Greenwood, Anfang dreissig, mit drei Jahren Halb- und acht Jahren Vollwaise geworden, arbeitet im Jahre 2038 als Naturführerin auf einer abgelegenen Insel vor der kanadischen Pazifikküste. Sie empfängt vermögende Touristen/-innen aus aller Welt und begleitet sie durch eines der letzten Naturparadiese, einen Urwald. Zehn Jahre zuvor vernichtete ein Pilz- und Insektenbefall den Grossteil der Wälder.
Nach dem frühen Tod ihrer Mutter wuchs Jacinda bei ihren Grosseltern in Indien auf. Über ihren Vater weiss sie nur, dass er starb, während er illegal in den USA arbeitete. Eines Tages ändert sich dies schlagartig. Jacinda erfährt, dass sich die Insel früher im Privatbesitz ihres Urgrossvaters befand, und sie erhält Einblick in das Tagebuch ihrer Urgrossmutter.
Das Findelkind
In der Folge entfaltet sich die turbulente Geschichte der Familie Greenwood. Da ist zunächst Jacindas Vater Liam, ein begnadeter Schreiner und Zimmermann, der einem Arbeitsunfall erliegt. Die Kindheit verbringt Liam mit seiner alleinerziehenden Mutter Willow in einem VW-Bus. Willow ist ständig unterwegs und in erster Linie damit beschäftigt, die Abholzung von Wäldern zu verhindern. Das Erbe ihres früh erblindeten Vaters Harris, der ein beträchtliches Vermögen mit der Abholzung von Wäldern anhäufte, nimmt sie zwar an, aber nur um es an eine Gruppe von Waldschützern weiterzugeben. Harris’ Bruder Everett, ein traumatisierter Veteran des Ersten Weltkrieges, schlägt sich zunächst als Landstreicher und später mit der Gewinnung von Ahornsirup durchs Leben, bis er an einem Ahornbaum ein Findelkind entdeckt…
Ein wunderbarer Schmöker
Gekonnt reiht der Autor Episoden wie Jahresringe aneinander, bringt allmählich Licht ins Dunkel und lüftet schliesslich die Geheimnisse der Familie Greenwood. Dadurch erzeugt er einen Sog, dem man sich als Leser/-in kaum entziehen kann. Er lässt eigenwillige Personen hervortreten, die alle miteinander sowie mit Holz, Bäumen und Wäldern in Verbindung stehen, sodass sich schliesslich ein grosses Ganzes bildet.
Michael Christie legt einen wunderbaren Schmöker vor, eine vielschichtige Familiensaga mit überzeugenden Figuren. Die Erzählung ist reich an klugen Gedanken und treffenden Aussagen, die nicht nur Bibliotheksbenutzer/-innen erfreuen, wie bspw. der folgenden: Jacindas Urgrossmutter nimmt «einen kleinen Stapel Bücher aus der Bibliothek, hebt sie an die Nase und atmet tief ein. ‹Gibt es einen schöneren Geruch?›, fragt sie.»
Lino Pinardi, Innerrhodische Kantonsbibliothek