Isabelle Autissier, Klara vergessen : Roman. – Hamburg : Mare, 2020. (978-3-86648-627-0)
Die gesteckten Ziele von Stalins sozialistischer Planwirtschaft sind hoch. Wer diese Ziele nicht erreicht, muss ein Saboteur sein, ein Landesverräter oder ein Spion. Dann kommen nachts die schwarzen Männer mit schwarzen Autos und lassen ihn verschwinden. Seine ganze Familie wird sämtlicher Privilegien beraubt und gerät in Armut und Schande. Der vierjährige Rubin muss mitansehen, wie seine Mutter Klara verhaftet wird und hat seither nie mehr etwas von ihr gehört. Sein Vater Anton schweigt aus Scham und Angst sein Leben lang.
Die Geschichte
Nur widerstrebend kehrt der 46-jährige Juri in seine Heimatstadt Murmansk nördlich des Polarkreises zurück. Er hat Russland vor 23 Jahren verlassen, lebt mit seinem Partner in Ithaca N.Y. und ist Professor für Ornithologie. Sein Vater Rubin liegt im Sterben. Der ehemals erfolgreiche Fischereikapitän will nur noch eines wissen: Was ist mit seiner Mutter Klara, Juris Grossmutter, passiert?
Der erste Eindruck in der Stadt seiner Kindheit ist verwirrend für Juri. «Hat er hier wirklich gelebt? Alles war anders und doch hat sich nichts verändert. Er hatte sich hier aufgehalten, sein Bett hier gehabt, seine Kleider im Schrank.» Auf Schritt und Tritt tauchen Bilder, Gerüche und Töne aus seiner Kindheit auf – einer Kindheit in der Sowjetunion, in Murmansk, der Stadt des damals grössten Fischereihafens der Welt.
Der Junge Juri ist nicht so, wie sein Vater, der skrupellose Kapitän Rubin, es sich wünscht. Er fordert mehr Muskeln am Körper seines Sohnes, der lieber tanzt und singt. Während sich seine Mutter Reva nur noch ihrem florierenden Schwarzhandel zuwendet, findet Juri Freude und Trost im Beobachten von Vögeln zusammen mit Luka, seinem Betreuer und Freund in den jährlichen Jugendlagern.
Klara
Von Klara wurde damals nie gesprochen. Juri kennt kaum den Namen. Er beginnt zögernd zu forschen und stösst in der Organisation «Memorial» auf Hinweise zur Geschichte seiner Grossmutter. Er fängt an, die schicksalhafte Verbindung zwischen den drei Menschen Klara, Rubin und ihm selber zu verstehen. Klara war eine Wissenschaftlerin zur Zeit Stalins mit dem Auftrag, Uran zu finden. Das «Verschwinden» seiner Mutter und die Verzweiflung seines weichlichen Vaters Anton bescherten Rubin eine harte, entbehrungsreiche Kindheit. Aus ihm wurde ein brutaler Kämpfer, ein gewaltbereiter Fischer, ein erfolgreicher Kapitän und schliesslich ein hartherziger Ehemann und Vater, der aus seinem Sohn einen ebenso harten Seemann machen wollte.
Isabelle Autissier
Isabelle Autissier gelingt es, eine Familiengeschichte über drei Generationen spannungsgeladen zu erzählen. Der eindrucksvolle Roman spielt mit menschlichen Abgründen, mit Ängsten, Demütigung und Einsamkeit. Mit Detailreichtum lässt er uns Ungeheuerlichkeiten erleben und begreifen, trotz aller Grausamkeiten menschliche Grösse und Güte spüren und nicht zuletzt lässt er unerbittlich schöne Naturerlebnisse erstehen. Ein Pageturner mit Tiefgang und Nachhall.
«Oublier Klara» erschien 2019 in Paris und ist nach «Herz auf Eis» (2015) der zweite Roman von Isabelle Autissier. Sie wurde 1956 in Paris geboren und begann, von ihrem Vater gefördert, schon mit sechs Jahren zu segeln. Sie hat als erste Frau im Rahmen einer Segelregatta einhand (alleine) die Welt umrundet. Seit 2009 ist sie Präsidentin vom WWF Frankreich.
Charlotte Kehl, Bibliothek Speicher Trogen